Krimi im Ersten

Tatort Berlin: Wer die Nachtigall stört

03.06.2016, 12.55 Uhr
von Detlef Hartlap
Für Louisa (Cosima Henman) ist ihr Smartphone wie ein Lebensnerv.
BILDERGALERIE
Für Louisa (Cosima Henman) ist ihr Smartphone wie ein Lebensnerv.  Fotoquelle: rbb/Julia von Vietinghoff

Als Teenie-Studie brauchbar, als Fortsetzungsstory missglückt: Die Kunst des horizontalen Erzählens erfordert eine schnellere Taktung und mehr Geschick.

Des Abends setzt sich Thorwald Müller, Rechtsanwalt und alleinerziehender Vater, zu seiner Tochter ans Bett. Louisa, so heißt die Tochter, fühlt sich spürbar gestört, sie kommuniziert gerade (und wie eigentlich ständig) via Smartphone mit einer Welt da draußen, die ihrerseits nur aus Smartphones besteht.

Thorwald Müller (Thomas Heinze) möchte seiner Tochter auch nicht zu nahe treten, er hat selbstredend volles Vertrauen zu Louisa (Cosima Henman). Es ist nur so, dass im Parkgeschoss eines Kaufhauses eine Frau zu Tode gekommen ist und es in diesem Zusammenhang eine Zeugen-Nachfrage der Polizei gegeben hat.

Natürlich alles völlig aus der Luft gegriffen, was soll schon Louisa, die mit ihren Freundinnen Charlotte und Paula fröhlich shoppend Geburtstag feierte, mit so einem tragischen Vorfall zu tun haben? Müllers Umgang mit seiner Tochter gleicht dem mit einem rohen Ei. Die Verhältnisse zwischen Vater und Tochter sind schrecklich heikel heutzutage. Wo Verständnis und Rücksichtnahme geheiligte Vaterpflicht sind, bleibt hartnäckiges Nachfragen tabu.

Wie sehr ihm das alles gegen den Strich geht, äußert Müller natürlich nicht, man hat sich ja im Griff. Doch wenn er Louisa in einer Aufwallung von Energie das Phone entzieht, aus pädagogischen Gründen und "bis morgen früh", ahnt man, wie sehr es in ihm brodelt. Thomas Heinze spielt das ganz hervorragend.

Für einen Teenager wie Louisa ist das natürlich die Höchststrafe. Die Maske ihrer Emotionslosigkeit fällt, und um den kurzfristigen Verlust des Lebensnervs Handy darf geweint werden.

Eine Studie über die Weltabgeschiedenheit von Teenagern

Der Berliner Tatort Wir – Ihr – Sie ist auch ein Mordfall, wie auch anders. Aber er ist vor allem eine Studie über die Weltabgeschiedenheit von Teenagern. Und als solcher ist er gut. Auch Louisas Freundinnen Charlotte (Valeria Eisenbart) und Paula (Emma Drogunova) wandeln weitgehend elternfrei wie kleine Nachtigallen mit Handy durchs Leben – wehe, sie werden gestört!

Ihr Revier ist ein winziger Ausschnitt von Berlin, aber er reicht aus, um diese Stadt für den Zuschauer zu einer Zone der Unwirtlichkeit zu machen. Kein Döblin'sches Alexanderplatzmonster, aber eine graue, regnerische Betonwüste, worin dem Autoverkehr die Dominanz gebührt; folgerichtig ist es eine Tiefgarage, die dunkle Ecke des unablässig fließenden Verkehrs, in der eine Frau und Mutter überfahren und tödlich verletzt wurde.

Zum dritten Mal ermitteln Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke), und beide sind mehr denn je mit privaten Problemen befasst. Probleme, die sich auf den Berliner Tatort in seiner immer noch neuen Besetzung übertragen. Wie soll der Zuschauer, der die letzte Folge, "Ätzend" hieß sie, nicht gesehen hat, ahnen, warum sich das halbe Polizeirevier wie Bolle über ein Video amüsiert, dass Kommissar Karow bei einer schwulen Nummer zeigt?

In "Ätzend" war Karows Neigung, sich die Melancholie seines wenig befriedigenden Jobs mit Strichjungen auszutreiben, zart angedeutet worden. Aber man muss das gesehen haben, um die Fortsetzung zu verstehen. Und wie gelangt so ein Film überhaupt in die Hände der Polizei? Die Frage bleibt unbeantwortet.

Auch Nina Rubins Ehe- und Mutterprobleme, die in einem hasserfüllten Aufruf ihres Ehemanns gipfeln ("... während du nachts in Clubs herumvögelst!"), sind für Erst- oder Gelegenheits-Zuschauer, welche die erste Becker/Waschke-Folge ("Das Muli") nicht gesehen haben, kaum nachvollziehbar, und selbst der geneigte Tatort-Stammkunde muss sich den Sinn mancher Äußerung erst wieder zusammenreimen.

Tatort-Folgen sind keine Serie. Ihre Taktung erfolgt weiträumig, und die Zuschauerschaft ergibt sich immer wieder neu.

Überzeugen kann eine solche Dramaturgie nicht

In einer kurzen und für Außenstehende völlig zusammenhanglos erscheinenden Szene taucht die Witwe eines Drogendealers aus dem Muli-Fall wieder auf. Mag ja sein, dass die Dame in künftigen Folgen noch mal gebraucht wird, doch überzeugen kann eine solche Dramaturgie nicht.

Auch die in der ersten Folge durchaus verheißungsvoll aufgeworfene Frage, was mit Karows erschossenem Partner von der Sittenpolizei passiert ist, verliert sich. Mancher gute Ansatz, der von der ursprünglichen Konzeption her auf ein großes zusammenhängendes Seriengefüge hinauslaufen sollte, wird infolge konfuser Handhabung nachgerade homöopathisch verwässert.

Das liegt nicht allein an Dagmar Gabler (Buch) und Torsten C. Fischer (Regie), die sich für diese Folge verantwortlich zeigen, das liegt an einem dilettantisch umgesetzten Versuch "horizontalen Erzählens", das heißt der Fortführung von Erzählsträngen über mehrere Folgen hinweg.

Ein Hasenfuß im Zwischenmenschlichen

Rubin, das lässt sich nach dieser Folge sagen, bräuchte dringend einen Partner, dem sie vertrauen könnte. Aber sie vertraut nicht, nicht mal sich selbst. Sie traut sich nicht einmal, Karow zu sagen, dass sie ihm, der von Selbstzweifeln geplagt wird, durchaus traut, ein bisschen wenigstens, und sie scheut auch davor zurück, sein Angebot zum Du anzunehmen.

Er traut sich seinerseits nicht, glaubhaft reinen Tisch mit seiner Vergangenheit zu machen, wie er sich auch nicht traut, zu seiner Homosexualität zu stehen. Karow ist ein Baum von einem Kerl, aber ein Hasenfuß im Zwischenmenschlichen, was er mit Anflügen von Arroganz zu überspielen versucht.

Seiner Ex-Frau (Ursina Lardi in einer Mini-Rolle) lauert er auf, um ihr einen ungefragten Kuss aufzudrücken. Er weiß genau, dass auch das von irgendeiner versteckten Kamera aufgenommen wird. Auf diese Weise, hofft er, verwässert sich auch sein Schwulsein.

Beim produzierenden Sender RBB sollte man indes achtgeben, dass nicht das ganze schöne Konzept des Berliner Tatorts den Bach runtergeht.

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