Erholung und Entzugserscheinungen

"Urlaub von der Straße": NDR-Doku begleitet Obdachlose in die Ferien

von Andreas Schoettl

Die Zahl der Obdachlosen in Deutschland steigt. Allein in Hamburg hat sie sich in den vergangenen zehn Jahren beinahe verdoppelt. Werner Hermann und Josef Mayer sind zwei von ihnen. Doch sie hatten eine Auszeit vom Überlebenskampf in der Hansestadt: "Jacky" und Werner durften in die Ferien fahren.

Es ist eine ungewöhnliche Reisegegruppe, die sich da vor den Augen einer TV-Kamera durch den Hamburger Hauptbahnhof bewegt. Die meisten der rund 20 Männer kennen die Räumlichkeiten nur vom Betteln. Sie sind Obdachlose, wie es allein in Hamburg hunderte gibt. Ihre Anzahl hat sich nur in den vergangenen zehn Jahren auf beinahe 2.000 nahezu verdoppelt. Die Männer im Bahnhof müssen sich diesmal aber ausnahmsweise keine Sorgen machen, wie sie über die Runden kommen. Sie fahren in den Urlaub. Die Filmemacher Julian Amershi und Marie Löwenstein sind dabei, wenn scheinbar gescheiterte Existenzen wie Werner Hermann und Josef "Jacky" Mayer fünf freie Tage vom harten Überlebenskampf verbringen. Zu sehen ist ihr beeindruckender Film "Urlaub von der Straße" am Freitag, 22. März, 21.15 Uhr, im NDR-Dritten.

"Draußen sind die meisten Einzelkämpfer, während ihrer Ferientage sollen sie Gemeinschaft erleben", sagt Uwe Martiny. Der Sozialarbeiter von der Hamburger Diakonie ist schon mehrfach auf vergleichbaren Urlaubsreisen mit Obdachlosen gewesen. Und deshalb weiß er von den Problemen, die sich auch diesmal in einer Selbstversorger-Anlage im Ratzeburger See in Schleswig-Holstein ergeben werden. Die Folgen und Auswirkungen ihrer jahrelangen Alkoholsucht haben die Reisenden sozusagen mit im Gepäck.

Ein Bierchen zum abendlichen Grillen sei erlaubt, gibt Martiny vor. Harte Sachen wie Korn oder Wodka aber nicht, schon gar nicht tagsüber. "Jacky" spürt die Konsequenzen schnell. In Hamburg auf Platte trinkt er täglich eine Flasche Wodka. Beim Grillen am See kann er nicht essen. Die Entzugserscheinungen setzen ihm zu. Sein Kumpel Werner kennt das Schwitzen, das Zittern und die Unruhe. Er erklärt: "Auf der Straße musst du Alkohol trinken. Da fängst du morgens schon an zu saufen. Augen auf, und dann erst mal Flasche an den Hals!"

Erholung, aber auch Entzugserscheinungen

Prompt fordert bereits der erste Abend in den Ferien den ersten Ausfall. Ein Teilnehmer ist so betrunken, dass er von der Betreuerin Ellen Debray auf sein Zimmer geführt werden muss. Am Tag darauf sind der Trinker und dessen Zimmergenosse verschwunden. Wohl sei ihnen das Saufen in Hamburg wichtiger, fasst Debray trocken zusammen. Dieser Aussetzer ist aber auch schon der einzige negative Punkt eines ansonsten hoffnungsvoll stimmenden Ausflugs. Schließlich geht es hier mitnichten darum, den Menschen etwas wegzunehmen, sondern ihnen etwas zu schenken, was sie in einem überwiegend unschönen Alltag nicht kennen: Erholung, eine Auszeit von den ganz normalen Härten des Obdachlosenlebens.

"Ein Schlüssel, das ist eine geile Geschichte. Ich habe schon lange keinen mehr gehabt", freut sich "Jacky", als er in seinem Zimmer mit weißen Bettlaken seine Entzugserscheinungen zumindest halbwegs in den Griff bekommt. Mit Werner geht er auf einen Spaziergang in den Wald. "Schon eine geile Sache, so ein Bach", freut er sich im Sonnenschein. Derweil befindet sich der Rest der Gruppe auf einer Fahrradtour rund um den See. "Manche von ihnen waren seit 20 Jahren nicht mehr auf einem Rad", weiß Debray. Alle kommen heil wieder an. Die Kameras der Autoren fangen rot glühende Gesichter ein. Die Obdachlosen freuen sich nach der körperlichen Anstrengung wie Kinder. Harte Gesichtszüge, eingefallene Wangen und Zahnlücken zeigen, dass sie mit ihrem eigenen Leben nicht sorgsam umgegangen sind.

Als die Reise nach fünf Tagen ihr Ende findet, blicken "Jacky" und Werner in den Sonnenuntergang. "Am liebsten würde ich hier bleiben", sagt "Jacky". Mittlerweile hat er sich rasiert, sieht besser und gesünder aus. Für ihn haben sich nur fünf Tage Ferien am Ratzeburger See ausbezahlt. Nach Aussage der Autoren habe er zehn Monate nach einer nur einfachen Reise den Absprung aus der Obdachlosigkeit geschafft.

Ellen Debray, so erklären die Filmemacher, habe "täglich mit diesen Menschen und ihrem Elend zu tun". Auf der Reise habe sie sie nun "von einer anderen Seite, als humorvoll, hilfsbereit und freundlich kennengelernt". "Am Ratzeburger See kommen die Obdachlosen zur Ruhe und geben der Reportage berührende Einblicke in ihre Geschichte sowie eine Welt, die für die meisten so fremd wie abschreckend ist." Ein durchaus berührender Reportagefilm, der ganz ohne voyeuristische Absicht Empathie erzeugt für Menschen, über die alle sonst einfach so hinwegsehen.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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