"Hart aber fair"

"Abrissbirne für Menschenrechte": Asyldebatte eskaliert

15.08.2023, 14.46 Uhr
von Doris Neubauer

Asylanträge steigen, die gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland nehmen zu: Wie geht man mit den Flüchtenden um? Bei der ersten "Hart aber fair"-Ausgabe nach der Sommerpause liefern sich Politiker, Migrationsexperten und Sozialarbeiter einen heftigen Schlagabtausch.

"Es ist eine Abrissbirne für Menschenrechte!", nimmt Lars Castellucci (SPD, Sprecher der Arbeitsgruppe Migration und Integration der SPD-Bundestagsfraktion) bei "Hart aber fair" kein Blatt vor den Mund. "Das Erbe von Frau Merkel ist über Bord geworfen", sieht er darin keine Spur mehr vom Humanitäts- und Ordnungsversprechen der Union.

Grund der Aufregung ist ein Vorschlag des CDU-Politikers und Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Thorsten Frei: Statt dem bisherigen Individualrecht auf Asyl solle die EU nach dessen Vorstellung ein fixes Kontingent von 300.000 bis 400.000 Schutzbedürftige aufnehmen und auf die Mitgliedsstaaten verteilen.

Es fehlen 700.000 Wohungen und 400.000 Kita-Plätze

Der Vorschlag kommt angesichts einer steigenden Anzahl von Asylanträgen: Im ersten Halbjahr 2023 hat es um 78 Prozent mehr Ansuchen gegeben als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Nicht inkludiert sind eine weitere Million Flüchtlinge aus der Ukraine. Angesichts dieses Anstiegs sehen sich die Kommunen an ihren Belastungsgrenzen. Sie drängen auf mehr Unterstützung vom Bund – und "die Parteien überbieten sich mit Vorschlägen", bringt es Moderator Louis Klamroth auf den Punkt. Böse Zungen mögen behaupten, es liege an den anstehenden Landtagswahlen im Herbst.

"Das ist ein krasser Bruch mit der Praxis. Warum wollen Sie das?", erkundigt sich Klamroth in seiner ersten ARD-Talk-Sendung nach der Sommerpause bei Frei. "Der Vorschlag bedeutet, dass wir eine Steuerung und Ordnung in der Migration haben", meint der CDU-Politiker, "wir brauchen diese Begrenzung, damit Gesellschaften in Europa in der Lage sind, die eigenen Herausforderungen zu bewältigen." Schließlich kämen Flüchtlinge jetzt in ein Deutschland, in dem beispielsweise 700.000 Wohnungen und 400.000 Kita-Plätze fehlen, in dem es in zwei Jahren an Tausenden Lehrern und in ländlichen Gebieten an ärztlicher Versorgung mangele.

"Hören Sie auf, von Wirtschaftsflüchtlingen zu sprechen!"

Dass es strukturelle Probleme in der Gesellschaft gibt, darin ist Cansin Köktürk (Sozialarbeiterin und Buchautorin) mit Frei einer Meinung. Es ist wohl der einzige Punkt. "Die Lösung ist aber nicht, Schuld bei den Geflüchteten zu suchen", betont sie. "Das tun wir nicht", lässt der CDU Politiker das nicht auf sich sitzen: Es gehe ihm vielmehr darum, wirklich Schutzbedürftigen bessere Hilfe zu bieten und nicht alle aufzunehmen, die sich in Europa soziale Leistungen und wirtschaftliche Vorteile versprechen.

"Kein Mensch riskiert für 100 Euro sein Leben. Hören Sie auf, von Wirtschaftsflüchtlingen zu sprechen", kontert Köktürk. Es ist der erste Schlagabtausch von vielen. "Lassen Sie mich bitte ausreden", lautet gefühlt jeder dritte Satz des Abends. Kalt lässt das Thema offenbar niemanden.

"Scheindiskussion, die den Diskurs klar nach rechts verschiebt"

Unterstützung erhält der CDU-Politiker bei Ruud Koopmans, Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität Berlin und Autor des Buchs "Die Asyl-Lotterie". Zwar kann auch er bei Freis Theorie, dass die Abschaffung des individuellen Asylrechts die Menschen davon abhält, sich auf dem Weg nach Deutschland zu machen, nur den Kopf schütteln. Die Menschen über Kontingente aufzunehmen, hält er aber für eine gute Idee.

Zusätzlich benötige man einen Plan: "Man braucht ein Abkommen mit Drittstaaten wie Türkei und Tunesien, um sicherzustellen, dass die Leute dort Möglichkeiten haben einen Schutzanspruch zu stellen", meint er. "In vielen dieser Länder gibt es schwere Menschenrechtsverletzungen", hält das Wiebke Judith (Rechtspolitische Sprecherin bei Pro Asyl) für keinen pragmatischen Vorschlag und spricht von einer "Scheindiskussion, die den Diskurs klar nach rechts verschiebt".

"Die Abschiebepolitik in Deutschland ist jetzt schon hart"

Für ebenso bedenklich hält Judith auch die Vorschläge von Innenministerin Nancy Fraeser, die Abschiebung zu verschärfen. "Die Abschiebepolitik in Deutschland ist jetzt schon hart", meint sie, "und wir befürchten, dass das mit den Vorschlägen von Frau Fraeser noch schlimmer wird". Dabei geht es unter anderem darum, den Ausreisegewahrsam von derzeit 10 auf 28 Tage zu verlängern, Mitglieder krimineller Vereinigungen leichter unabhängig von strafrechtlicher Verurteilung abzuschieben und andere Räumlichkeiten als das Zimmer des Betroffenen in Gemeinschaftsunterkünften zu betreten.

Dass die angekündigten Regelungen einen – positiven – Unterschied machen und die Kommunen entlasten, das bezweifelt auch Koopmans. "Die einzige Möglichkeit, die Kommunen zu entlasten und das Massensterben im Mittelmeer oder der Sahara zu stoppen", seien Abkommen mit Drittstaaten, lässt er sich nicht beirren. "Wann findet diese Entlastung statt?", möchte Köktürk wissen. "Das kann sehr schnell gehen. Als 2016 das Abkommen mit der Türkei unterzeichnet wurde, konnte man innerhalb von Wochen die Zahlen herunterführen", betont der Experte. Es ist ein kleiner Hoffnungsschimmer ...


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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