Der zehnte Fall Wotan Wilke Möhrings als Bundespolizist Thorsten Falke ist ein cleveres, spannendes Spiel mit alternativen Wahrheiten.
Während eines nächtlichen Einsatzes von Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Julia Grosz (Franziska Weisz) stirbt eine junge Frau. Die Kugel könnte aus der Dienstwaffe des in Lüneburg ermittelnden Bundespolizisten Falke stammen – weswegen er über weite Strecken seines zehnten "Tatort"-Einsatzes im Verhörraum einem örtlichen Ermittler (Joachim Rehberg) gegenübersitzt. Parallel befragt der Lüneburger Kommissar auch Falkes Partnerin Grosz, die ihm eine gänzlich andere Version der Geschichte auftischt. Der eigentliche Fall um einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher aus Syrien, den die Ermittler als in Lüneburg untergetauchten Flüchtling suchen, wird in Rückblenden erzählt. Zuschauer des spannenden Verwirrspiels dürfen in "Tatort: Alles was Sie sagen" mitraten: Was ist im Lüneburg der vergangenen Tage tatsächlich geschehen?
Je weniger man vorab über den vom Drehbuchautoren-Team Jan Martin Scharf und Arne Nolting ("Weinberg", "Club der roten Bänder") klug gezimmerten Fall weiß, desto besser. Seit Akira Kurosawas Filmklassiker "Rashomon" von 1950 darf man den Bildern eines Films ja nicht mehr trauen. Damals wurden dem verblüfften Zuschauer erstmals verschiedene Versionen eines Verbrechens "im Bildbeweis" geliefert. Ein Stilmittel, das sich zuletzt in Staffel eins der vielfach preisgekrönten US-Serie "True Detective" wiederfand, in der sich Matthew McConaughey und Woody Harrelson als ehemalige Cop-Partner sehr unterschiedlich an einen lange zurückliegenden Fall erinnerten.
Doch keine Angst – dieser "Tatort" ist keine anstrengende Hommage ans Kunstkino oder die US-Serien-Elite. Auch zählt der Film nicht zu den berüchtigten "experimentellen Tatorten", denen laut ARD in Zukunft Einhalt geboten werden soll. Fans nach vorne gewandter Fernseh-Erzählkunst zittern jetzt schon. Trotzdem ist "Alles was Sie sagen" im Prinzip ein bodenständiger Krimi, aber eben einer mit besonderem Kniff.
Der Hamburger Regisseur Özgür Yildirim ("Chiko", "Blutzbrüdaz") ist für seine realistischen Milieuzeichnungen bekannt . Hier schafft er es, dass selbst ein pittoreskes Touristen- und Studentenstädtchen wie Lüneburg, wo sich sonst das Midlife-Krisen-geschüttelte Personal der ARD-Soap "Rote Rosen" Dialoge von der Stange zuwirft, als Ort des organisierten Verbrechens und vermuteter Polizei-Korruption durchgeht. Weil sich das Drehbuchteam Scharf / Nolting nicht mit handelsüblichen Krimi-Storys zufriedengibt und dazu noch realistische, konzentrierte Dialoge schreibt, tut Yildirims dritte Regiearbeit für einen Falke-"Tatort" beim Zuschauen und Hören besonders gut.
Bevor gegen Ende das Kammerspielhafte samt alternativer Wahrheiten immer mehr Raum einnimmt, sieht man in den 60 Minuten zuvor zwei durchaus zweifelhaften Ermittlern zu. Während Punkrock-Kommissar Falke die Lüneburger Provinzermittler über Gebühr aggressiv anfährt, scheint sich Kollegin Grosz in eine alte Bettgeschichte mit dem ehemaligen Kollegen Olaf Spieß (Marc Rissmann) zu flüchten. Da kommt es schon mal vor, dass man beim Flirten mit Cocktailgenuss während einer nächtlichen Observation übersieht, dass sich das Zielobjekt gerade durch den Vorderausgang vom Acker macht. Darf man diesen Kommissaren also noch trauen?
Auch die Beantwortung dieser Frage ist Teil des klugen Spiels der Autoren mit dem Zuschauer. "Alles was Sie sagen" ist unter den bisherigen zehn Filmen der zweitbeste "Tatort" mit Wotan Wilke Möhring als Kommissar. Noch zwingender wurde beim Hamburger Bundespolizisten und seinen beiden Partnerinnen Franziska Weisz und Petra Schmidt-Schaller nur beim Abschied Letzterer, im "Tatort: Verbrannt", erzählt. Der viel beachtete Krimi modellierte im Oktober 2015 die wohl wahre Geschichte des in einer Polizeizelle gemeuchelten Asylbewerbers Oury Jalloh nach. Auch wenn "Alles was Sie sagen" nicht an die akribisch dokumentierte Doku-Wucht dieses TV-Highlights heranreicht: Das kleine Falke-Jubiläum zeigt, wohin ein gutes Buch und eine konzentrierte Inszenierung diesen in der Vergangenheit oft überladenen, konfus überambitionierten NDR-"Tatort" tragen können.