Kleines Experiment, gelungene Idee: Der "Tatort: Der Mann, der lügt" erzählt den aktuellen Stuttgarter Fall ausschließlich aus Sicht des Hauptverdächtigen.
Visionen, Horror, Weltuntergang – an weitreichende Experimente im "Tatort" scheint das Publikum, trotz alberner Quotierung, inzwischen gewöhnt. Es mutet daher etwas unpassend an, den aktuellen "Tatort: Der Mann, der lügt" ebenfalls in diese Kategorie zu verfrachten. Schließlich handelt es sich beim neuen Fall der Stuttgarter Kommissare Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) letztlich um einen Krimi wie aus dem Bilderbuch. Ein Mord, mehrere Verdächtige, eigenartige Familienverhältnisse sowie zwei Ermittler, die den Hinweisen lehrbuchmäßig nachgehen und schließlich eine heiße Spur finden. Allein: Erzählt wird der bemerkenswerte SWR-"Tatort" unter Regie von Martin Eigler ausschließlich aus Sicht des Hauptverdächtigen. Jener bemitleidenswerte, herausragend gespielte "Mann, der lügt" erlaubt trotz klassischem Plot einen frischen Blick auf das Genre.
Das Mitfiebern im "Tatort" beruht meist darauf, gemeinsam mit den Kommissaren den Täter zu identifizieren. Was aber, wenn die Empathie des Zuschauers auf einen einzigen Verdächtigen gelenkt wird? Was, wenn wir am Fall nicht als einigermaßen objektive Beobachter teilhaben, sondern eins werden mit der subjektiven Wahrnehmung eines Einzelnen, der ins Visier der Ermittler gerät? Kurze Antwort: Es funktioniert herausragend. Zumindest im aktuellen Schwaben-"Tatort" aus der Feder von Sönke Lars Neuwöhner und Martin Eigler, die bereits für den kontroversen Dortmunder Terror-"Tatort: Sturm" verantwortlich zeichneten.
Erzählt wird die Geschichte des Jakob Gregorowicz, brillant verkörpert von Manuel Rubey, dessen eindrückliches Spiel in der Lage ist, fast den gesamten Film zu tragen. Muss es ja auch: In jeder Szene steht der gutverdienende Ehemann und Familienvater im Mittelpunkt, in jeder Minute werden wir Zeuge seines schleichenden Niedergangs. Es beginnt recht harmlos: Die Kommissare Thorsten Lannert und Sebastian Bootz stehen in der Tür des Protagonisten; sie ermitteln im Fall des Anlageberaters Uwe Berger, der erstochen aufgefunden wurde. Warum sein Name im letzten Eintrag des Terminkalenders des Toten auftaucht, wollen sie von Gregorowicz wissen. Es habe keine Verabredung mit dem Opfer gegeben, antwortet dieser, er könne es sich nicht erklären.
Kein Blick auf die Leiche, keine Spurensicherung, keine Diskussionen zwischen den Kommissaren – den Stand der Ermittlungen erfährt der Zuschauer nur aus Sicht der Hauptfigur. Am Rande, aus dem Hintergrund erfährt man etwa, dass der Sohn des Toten, verschwunden ist. Auch der Tatort, die Villa Bergers, ist zunächst nur flüchtig aus Sicht Gregorowiczs zu sehen, als dieser im Auto neugierig vorbeifährt. Die Ungereimtheiten beginnen: Der bislang nur als Zeuge Befragte verstrickt sich in Widersprüche, ändert seine Aussagen, erzählt auch seiner Frau Katharina (Britta Hammelstein) die Unwahrheit. Immer mehr Indizien häufen sich gegen ihn an, immer drängender befragen ihn die Kommissare, für die Gregorowicz schließlich zum Hauptverdächtigen wird.
Durch die Bindung an den durchaus bemitleidenswerten Hauptcharakter begibt sich auch der Zuschauer auf eine Tour-de-Force: Stellt man sich anfangs die Frage "Was würde ich tun, wenn ich als Unschuldiger ins Zentrum der Ermittlungen rücken würde?", verhält sich Gregorowicz bald so auffällig, dass seine Schuld kaum klarer sein könnte. Nicht nur begleitet ihn die Kamera dabei, sich bei seinem Zahnarzt ein Alibi zu verschaffen, nicht nur sehen wir ihn beim laufenden Lügen, etwa seinem Anwalt (Hans Löw) gegenüber. Auch fängt die mitreißende Inszenierung die Emotionen und körperlichen Reaktionen des Verdächtigen in intimer Nähe ein – sein Schwitzen, sein Zittern, seine verschwommenen Rückblicke und seinen oft trüb werdenden Blick auf die Welt.
Der geniale Dreh, der dem "Tatort" tatsächlich gelingt, ist die bleibende Sympathie mit dem mutmaßlichen Täter. Die insgeheime Frage lautet nun: "Was würde ich tun, wenn ich schuldig wäre, aber der Strafe entgehen will?"
Mit diesem klugen Erzählmomentum ist die Fülle der sehenswerten "Tatort"-Folge, in der natürlich wieder viel geschwäbelt wird, jedoch noch lange nicht erreicht. Im Grunde geht es schließlich um den Blick auf einen Mann, dem sein gesamtes bisheriges Leben zu entgleiten droht; um einen Menschen, der voller Verzweiflung mit immer neuen Lügen darum kämpft, dass alles so bleibe, wie es war. Der dabei indes nicht zu sehen vermag, dass um ihn herum längst alles zerbrochen ist. Mehr kann man von einem "Tatort" wahrlich kaum verlangen.