Wenn die Vergangenheit die Gegenwart bestimmt: Der Berliner "Tatort: Das Leben nach dem Tod" thematisiert ein besonders heikles Kapitel der DDR-Geschichte – samt einem Ermittler, der wochenlang neben einer Leiche wohnte.
Anlässlich des 30. Jahrestags des Mauerfalls herrscht im deutschen Fernsehen Ausnahmezustand. Auch die in Ost und West beliebteste Krimireihe steht dem in nichts nach – allerdings ohne große Rührseligkeit oder Nostalgie: Zum Jubiläum widmet sich der "Tatort" einem besonders heiklen Kapitel der DDR-Vergangenheit – der Todesstrafe, die offiziell erst im Jahr 1987 abgeschafft wurde. Bevor sich Karow (Mark Waschke) und Rubin (Meret Becker) im Berliner "Tatort: Das Leben nach dem Tod" jedoch mit den Überbleibseln des ostdeutschen "Arbeiter- und Bauernstaats" herumschlagen, gibt es erstmal eine ziemlich verweste, bereits mumifizierte Leiche.
Die wiederum wird nicht irgendwo gefunden, sondern direkt neben Karows Wohnung im Ostberliner Plattenbau, wo es sich der Ermittler mit kahlen Wänden im Industrieschick heimisch gemacht hat. Nun jedoch ist sein Nachbar tot, ein älterer, augenscheinlich sehr religiöser Herr, dessen Leichnam wochenlang unbemerkt ein paar Meter vom Kommissar entfernt vor sich hinfaulte. Nur ein weiterer Fall eines vereinsamten und allein gestorbenen Rentners? Keineswegs, findet Karow, der seine bereits mit der Reinigung beschäftigte Vermieterin Olschewski (Karin Neuhäuser) aus der Nachbarswohnung jagt und diese als Tatort absperren lässt. Zuvor bereits hatte der geheimnisvolle Inhaber der Reinigungsfirma, Hajo Holzkamp (Christian Kuchenbuch), die Säuberung der Wohnung aufgrund eines Anfalls nicht durchführen können.
Und in der Tat: Eine zweite gerichtsmedizinische Untersuchung ergibt, dass das Opfer von hinten erschossen wurde. Zunächst glauben Karow und Rubin angesichts des auffälligen Verhaltens der Vermieterin ("Leichengeruch stellt keinen Grund für Mietminderung dar") an eine "Entmietung per Mord" – und spielen damit überhöht auf die in vielen Großstädten virulente Verdrängung von Altmietern an. Überhaupt hangelt sich der "Tatort" von einem gesellschaftsrelevanten Thema zum nächsten: Sei es der Umgang der afrodeutschen Gerichtsmedizinerin Jamila Marques (Cynthia Micas) mit Rassismus, seien es die Probleme, die Frauen in Führungspositionen haben oder die schwierige Wohnungssuche, der sich die neue Staatsanwältin (Lisa Hrdina) stellen muss. Oder sei es die jüdische Herkunft der Kommissarin ("Sag bloß, du hast dir im Dienst nie einen Judenwitz anhören müssen?" – "Ich kannte die besseren"), die sich ziemlich auffällig nach einer neuen Stelle umschaut – wohl bereits eine Hinführung auf den geplanten Ausstieg von Meret Becker.
"Damals wäre das nicht passiert"
Thematisiert werden auch die Clans, die in den abgehängten Vierteln der Hauptstadt ausländische Jugendliche wie Ana (Elina Vildanova) und Magda (Amira Demirkiran) dazu bringen, bei älteren Menschen einzubrechen. So wie bei dem 80-jährigen Gerd Böhnke (Otto Mellies), einem ehemaligen DDR-Richter, dem bei dem Überfall der Orden "Verdienter Jurist der DDR" gestohlen wurde. Verbittert, so die realistische Darstellung eines einst ranghohen und schließlich bedeutungslosen Mannes, ist der Senior über das Ende der geordneten DDR und das Chaos der BRD: "Einigkeit und Recht und Freiheit – vor allem für Verbrecher", schimpft er. "Damals wäre das nicht passiert", weiß Böhnke, "da lebten wir in Sicherheit".
Vermuten die Kommissare zunächst, auch der Tote könnte Opfer eines Einbruchs gewesen sein, öffnet sich plötzlich ein völlig neuer Blick auf die Tat: Richter Böhnke verurteilte Karows Nachbarn 1972 wegen eines Mehrfachmordes zum Tode – eine Strafe, die nicht vollzogen wurde, weil die DDR international in gutem Licht dastehen wollte. Der Täter indes kam nach der Wende auf freien Fuß. Konsequenterweise stellen sich Karow und Rubin, die nett wie selten miteinander umgehen ("Sie sind nicht allein, Karow", "Sie sind die beste Polizistin, die ich kenne"), die Frage: Hat Böhnke etwas mit dem Mord zu tun?
Der Dreh, den der "Tatort" in Richtung DDR-Geschichte nimmt, ist auch dank des herausragenden Spiels aller Beteiligten folgerichtig und wirkt nicht konstruiert. Zu verdanken hat der Krimi seine gesellschaftspolitische und historische Tiefe bei gleichzeitiger Leichtigkeit aber dem Drehbuch von Sarah Schnier. Die Autorin sagt, sie habe eine Geschichte um ein Mordopfer schaffen wollen, "bei der das größere Rätsel am Ende womöglich nicht ist, wie er zu Tode gekommen ist, sondern wie und warum er gelebt hat". Es sind diese unbekannten und differenzierten Erzählungen über ostdeutsche Lebensläufe, Mentalitäten – und ja, auch Verbrechen -, die 30 Jahre nach dem Mauerfall die Historie verstehen helfen. Besser und weniger belehrend kann ein "Tatort" als Geschichtsstunde kaum gelingen.