Mysteriöse Indianer, verweste Hundekadaver und Alt-68er mit Alzheimer: Trotz seines Titels "Borowski und das Haus am Meer" ist Ruhe an der See im Kieler "Tatort" Fehlanzeige. Vor düsterer Kulisse trifft der Ermittler auf verängstigte Kinder inmitten eines familiären Generationenkonflikts.
Endlich mal ein "Tatort", der Ruhe und Erholung verspricht! Doch der aktuelle Kieler Krimi "Borowski und das Haus am Meer" bietet entgegen seines Titels weder dem Kommissar noch den Zuschauern auch nur im Ansatz Anlass zur Entspannung. Stattdessen: düstere Bilder einer unwirtlichen See, verweste Hundekadaver, mysteriöse Charaktere wie einen schweigsamen "Indianer", verbissene Alt-68er und traumatisierte Kinder. Zwar tischt der Experimenten oft zugeneigte NDR-"Tatort" diesmal keine vollkommen groteske Handlung auf – dafür aber eine verstörende und in zunächst unübersichtlich wirkenden Rückblicken erzählte Familiengeschichte, die den Konflikt dreier deutscher Generationen spiegelt. Chronologisch aufgearbeitet wird hier nichts – in bester Thrillermanier offenbart der Film aus der Feder von Niki Stein, der auch Regie führte, die Geschehnisse peu à peu.
Klar ist anfangs nur: Borowski, den Axel Milbergs herausragendes Spiel einmal mehr passend in die raue Küstenlandschaft einbettet, und seine Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriacik) werden abermals nicht zu einem Fall gerufen. Vielmehr rennt ihnen ein ebensolcher aus dem Wald direkt vors Auto – in Gestalt eines verängstigten kleinen Jungen. Simon (Anton Peltier) heißt er und berichtet verwirrt, dass er von einem Hund angegriffen, schließlich jedoch von einem Indianer gerettet worden sei – vor allem aber, dass sein Opa tot im Wald liege, Die Geschichte scheint ausgedacht, Borowski findet nichts Verdächtiges. Die Ermittler bringen den Achtjährigen zu seinen Eltern Johann (Martin Lindow) und Nadja Flemming (Tatiana Nekrasov) – und tatsächlich: der Großvater ist nicht mehr da.
Warum das keine gute Nachricht ist, erfahren wir in bisweilen etwas wirr geschnittenen Rückblicken auf das recht absonderlich wirkende Familienleben der Flemmings: Opa Heinrich (Reiner Schöne) hat Alzheimer, verliert manchmal Orientierung und Beherrschung und beschimpft regelmäßig seinen Sohn, den mit sich und den Liebsten sehr strengen Pfarrer Johann. Der wiederum hatte seinen dementen Vater, der ihn nie wirklich anerkannte, aus christlicher Nächtenliebe zur Pflege aufgenommen – muss ihn nun aber regelmäßig im Zimmer einsperren. Dass das Opa nur aggressiver macht, ist klar – schließlich, so zeigt uns der "Tatort", lebte der einst als alternativer 68er-Kommunarde, verfasste ein Standardwerk zur antiautoritären Erziehung und wohnte zuletzt auf einem dänischen Hippie-Schiff, auf das ihn seine große Liebe Inga Andersen (Jannie Faurschou) notfalls mit Gewalt wieder zurückholen wollte.
Interessante Debatten
Nur minimal klarer wird die komplizierte Gemengelage für Zuschauer wie Ermittler, als Heinrichs Leiche schließlich vergraben am Strand gefunden wird – getötet und dann bestattet in christlicher Bet-Pose samt gigantischem Kreuz und neben einem schon länger verwesten Hundekadaver. Derweil sind Inga und das eigenartige Schiff verschwunden; dauerpräsent dafür der hochmysteriös agierende "Indianer" (Thomas Chaanhing), der plötzlich in Gebüschen, am Altar der Kirche und vor Simons Schule auftaucht. Ist er nur eine Einbildung oder eine echte Bedrohung? Als fragwürdig erweist sich dabei nicht nur der Sinn dieser Figur, sondern auch das irgendwie überkommene "Indianer"-Bild, das der "Tatort" damit zeichnet ("Indianer kommen normalerweise mit dem Kanu"). Nicht von der Hand zu weisen ist indes die geheimnisvolle und beinahe horroreske Mystery-Stimmung, die der Krimi dank Indianer- und Hunde-Erscheinungen erzeugt.
Hochinteressant hingegen die Debatten, mit denen Borowski im Laufe der Ermittlungen im Fall des Mordes an Heinrich konfrontiert wird. So wollte sich Letzterer nicht nur von seinem SS-Vater und dem Deutschsein allgemein abgrenzen, was seine Ex-Frau zum beliebten Nazivergleich "Diese Generation war genauso fanatisch wie ihre Väter" verleitet. Auch galt der Großvater in der reformpädagogischen Bewegung im Dänemark der 70er-Jahre als großes Vorbild, sein Buch "Ulydighed" (zu Deutsch: "Ungehorsam") als wichtiger Leitfaden zur alternativen Erziehung. Kleiner Wermutstropfen: Das Konzept sah unter anderem vor, dass die Kinder allein in der Wildnis ausgesetzt wurden, um Eigenständigkeit zu lernen. Zudem, so der auf realen Erziehungskonzepten der Post-68er basierende und heute klar pädophile Ansatz, sollten Erwachsene die aufkeimende Sexualität der Kinder aktiv begleiten. Eine befremdliche Interpretation von "freier Erziehung", die im Laufe des Krimis noch entscheidend werden soll.
Borowski fungiert in dem "Tatort", der nicht nur in kühle Farben getaucht ist, sondern auch die gemeinsame Kälte dreier Männer aus oberflächlich unterschiedlichenen deutschen Generationen thematisiert, dahingehend als eine Art Vertreter der Widersprüchlichkeiten der Alt-68er: "Erziehung zur Eigenständigkeit – ist das so schlecht?", fragt der Kommissar, der Gehorsamsverweigerung gegenüber unsinnigen Befehlen für richtig hält und offenbart: "Wir haben damals ständig mit unseren Lehrern diskutiert." Auf die Entgegnung, dass er ja aber wohl nicht mit seiner Lehrerin geschlafen habe, gesteht der Ermittler: "Wenn Sie mich so fragen ..."
Überhaupt erfahren wir so einige Geheimnisse über Borowskis Privatleben und Ansichten: Er verrät, wie es seiner Tochter in Kanada geht, was "das Schreckliche an meinem Beruf" ist (nämlich: "Dass sich jeder Mörder für etwas Besonderes hält") – und auch, dass er mit Kindern nicht so ganz kann. Als dem Kommissar nämlich klar wird, dass Simon den Täter gesehen haben muss, befragt er den Jungen dazu – was die anwesende Kinderpsychogin prompt kommentiert: "Herr Borowski, Sie überfordern das Kind". Dass Borowski überfordern kann, wissen die Zuschauer indes schon länger. Dass ihn das einzigartig macht, allerdings auch.