Ein politisch aufgeladener "Tatort" am "Deutsche Einheit"-Wochenende beleuchtet drei Generationen einer Berliner Familie. Rubin (Meret Becker) und Karow (Mark Waschke) müssen zwischen Kriegsverbrechern, Wendeverlierern, Neonazis, Kapitalistensöhnen und Antifa-Radikalen die Wahrheit herausfinden.
Was liegt näher, als am Wochenende des 30. Jahrestags der Deutschen Wiedervereinigung im erfolgreichsten Fiction-Format der Deutschen auf eben diese Einheit zu blicken? Der rbb übernimmt das mit den "Tatort"-Kommissaren Rubin (Meret Becker) und Karow (Mark Waschke). Passenderweise ermitteln sie in der deutschen Hauptstadt Berlin. Dort liegt kurz nach der Feier seines 90. Geburtstags der Unternehmer Klaus Keller (Rolf Becker) erschossen auf seiner Terrasse. Um den Hals trägt er ein Schild mit den Worten: "Ich war zu feige, für Deutschland zu kämpfen".
Keller war Seniorchef einer großen Berliner Baufirma, sein aktuell wichtigstes Projekt war die Errichtung eines Dokuzentrums über die Shoa in Israel. Klaus Keller sah in der Versöhnung Deutschlands und Israels eine Lebensaufgabe. War der Mord an ihm ein rechtsradikaler Anschlag?
Die Ermittler müssen jedoch nicht weit schauen, um sich radikal unterscheidende Weltbilder im nächsten Umfeld des Opfers zu finden. Es reicht der Blick auf die Familie Keller selbst, sozusagen als deutscher Werte-Mikrokosmos: Klaus' Bruder Gert (Friedhelm Ptok) machte nach dem Krieg "Karriere" im Osten der Stadt. Als Stasi-Major, SED-Funktionär – und späterer Wendeverlierer. Gerts Sohn Fredo (Jörg Schüttauf) radikalisierte sich nach der Wende als Neonazi und arbeitet mittlerweile als "völkischer Abgeordneter".
Noch etwas mehr politisches Spektrum gefällig? Klaus Kellers Enkel Moritz (Leonard Scheicher) verehrt seinen Großvater, sieht jedoch seinen Kapitalisten-Vater und eigentlichen Chef der Baufirma äußerst kritisch. Mittlerweile lebt Moritz in einem linken Wohnprojekt und torpediert die Lebenshaltung seiner Eltern. Im komplexen Geflecht dreier Generationen müssen die Berliner Kommissare herausfinden, wer in dieser "Modellfamilie" welche Farbe spielt und warum sich der deutsche Schuldkreis ausgerechnet am Abend des 90. Geburtstags ihres wohlmeinenden Patriarchen schließt.
2020 den Bogen vom Kriegsende über die deutsche Teilung, Wiedervereinigung bis hin zu aktuellen Krisen der Demokratie zu schlagen, ist ein ambitioniertes Projekt – zumal in 90 Minuten. Fast möchte man sagen, dieser "Tatort" ist "staatstragend" geraten – wäre da nicht das schuldbeladene, sich selbst zerfleischende Narrativ, das diesen in dunklen Farben gedrehten Krimi allein schon stimmungsmäßig prägt. Keine der drei Keller-Generationen empfindet so etwas wie Lebensfreude. Alle Protagonisten tragen eine Schwere und Unversöhnlichkeit mit sich herum, so dass der Film allein schon deshalb ein wenig anstrengend ist.
Der erfahrene "Tatort"-Drehbuchautor Christoph Darnstädt, er schrieb viele Til Schweiger-Folgen, aber auch einige Berliner Episoden, hat den Job des Deutsche-Einheit-"Tatorts" übernommen. Hier und da lugen ein wenig zu viel Didaktik und Konstruiertheit durch sein Werk, auch wenn man sagen muss, dass gerade die Schuld der Alten berührend in Szenen gesetzt wird. Viel Zeit bleibt ohnehin nicht mehr, in der Gegenwart von deutschen Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Nazi-Zeit zu erzählen. Dass die alten Protagonisten dieses Films um die 90 sein müssen, um über Hitlerjugend und letzte Aufgebote im Berliner Endkampf 1945 zu berichten, zeigt, was die Stunde geschlagen hat: Es sind Geschichten der letzten Zeugen von Erlebnissen, die sich tief in die DNA nachfolgender deutscher Generationen eingebrannt haben.
In der berührendsten Szene des Films besucht die jüdische Kommissarin Rubin die demente Frau des Opfers im Pflegeheim. Während das Kurzzeitgedächtnis der alten Dame so schlecht ist, dass sie sich jeden Vormittag neu auf den Besuch ihres geliebten, aber eben kürzlich verstorbenen Manns freut, sind die Erinnerungen an ihre Zeit im Bund Deutscher Mädel noch kristallklar. Wenn sich vor Else Kellers Augen noch einmal jener Moment abspielt, als die Familie ihrer jüdischen Freundin im Haus gegenüber von der Gestapo abgeholt wird, nachdem Else sie verraten hat, hat nicht nur Kommissarin Rubin schwer an der fantastischen Szene mit der 85-jährigen Schauspielerin Katharina Matz zu schlucken.
Unterm Strich bietet "Ein paar Worte nach Mitternacht" – bei aller Emotionalität der Dialoge – über 90 Minuten ein bisschen zu wenig emotionalen Tiefgang. Wohl deshalb, weil sich die Erzählung in ihrem großen Deutschland-Bogen ein wenig verzettelt. Nicht in der Story an sich – sie wird ziemlich clever aufgelöst – aber in der Aufgabe einer emotionalen Anteilnahme an zu vielen Charakteren. Trotzdem hat der zwölfte "Tatort" mit Karow und Rubin eine große Stärke. Der Film vermittelt die Trauer über eine nahe Zeit, in der alle Zeugen, so wie Klaus Keller, fort sind. Dann werden die Traumata des Krieges nur noch als tiefenpsychologisches, schmerzendes Echo irgendwo in uns wabern. Diese Erkenntnis erzählerisch plastisch zu machen, ist eine Stärke dieses in jeder Hinsicht sehr deutschen "Tatorts".
Tatort: Ein paar Worte nach Mitternacht – So. 04.10. – ARD: 20.15 Uhr