In Dortmund ist mal wieder alles extrem. Kommissar Faber (Jörg Hartmann) und seine unerwiderte Liebe zur derangierten Kollegin Bönisch (Anna Schudt) scheint so aussichtsreich wie eine Love-Story im Atomblitz. Dazu schlagen sich Abgehängte, Migranten und Wutbürger in einem Brennpunkt die Köpfe ein.
Im Gerberzentrum, einer tristen Hochhaus-Siedlung in Dortmund, steht die Welt kopf. Wenn es dort im "Keller" brennt, inklusive Fund einer verkohlten Leiche, muss man bis in oberste Stockwerk fahren, um die Abstellräume zu begutachten. Erwischt hat es eine junge Bewohnerin, im vierten Monat schwanger. Umgekommen ist sie jedoch nicht durchs Feuer, sondern durch den "klassischen stumpfen Gegenstand" (selbstironischer "Tatort"-O-Ton), der sie zuvor hart am Kopf traf. Die Neue in der Dortmunder Mordkommission, Rosa Herzog (Stefanie Reinsperger), lässt das Handy der Toten auswerten und untersucht mit ihren Kollegen Peter Faber (Jörg Hartmann), Martina Bönisch (Anna Schudt) und Jan Pawlak (Rick Okon) deren Wohnung. Die Verdächtigen in "Tatort: Heile Welt" stehen stellvertretend für den Mikrokosmos jener Hochhaus-Siedlung mit heruntergekommenem Einkaufszentrum, in dem der Fall spielt.
Da sind Hakim Khaled (Shadi Eck), Sohn des örtlichen Imams, aber möglicherweise auch als Drogendealer unterwegs, und ein Hausmeister (Sven Gey) mit Kontrollzwang und Liebe zur Kameraüberwachung. Schließlich gibt es noch den netten Computertypen (Jürg Plüss), der nach der Pleite seines Ladenlokals ("wegen Corona") illegal in einem mit alten Zeitungen verklebten Glaskasten lebt, der früher sein Geschäft war.
Das Personal in "Heile Welt" (Drehbuch: Dortmund-Stammautor Jürgen Werner) besteht aus Sozialfällen, Migranten ohne Chance sowie rechten und linken Demagogen. Wutbürger sind sie alle auf ihre Art. Jedes Ereignis im Gerberzentrum wird per Handy aufgenommen, in soziale Netze gepostet und umgehend hundertfach kommentiert. Regisseur Sebastian Ko, der zuletzt zwei Folgen "Helen Dorn" und davor einige Kölner "Tatort"-Krimis inszenierte, nutzt hierfür das Stilmittel Dutzender aufpoppender Nachrichten auf dem TV-Bildschirm. Wird ein Migrant verhaftet, zücken dessen Kumpel sofort ihr Smartphones wie eine Waffe und stellen das Ereignis ins Netz.
Die linke Aktivistin Annika Freytag (Jaëla Probst) hingegen verbreitet den scheinbar intimen Austausch der Kommissare mit dem rechten Politiker Nils Jacob (Franz Pätzold), um der Polizei – und insbesondere Martina Bänisch – eine Nähe zu faschistisches Kräften zu unterstellen. Alle Posts und Kommentare haben gemein: Fakten werden so behandelt, wie man sie gerne sehen möchte. Die Dortmunder Außenseiter-Welt ertrinkt in einem Meer aus Fake News.
Dass diese Welt am Rande des Kollaps steht, erfährt der Fernsehzuschauer gleich zu Beginn des Films, der mit kriegsähnlichen Gewaltszenen aufmacht. Danach die Einblendung: "48 Stunden vorher". Das in letzter Zeit so gerne verwendete Stilmittel des erzählerischen Vorgriffs plus der Frage, wie es so weit kommen konnte, soll es mal wieder richten. Dass "Heile Welt" mal wieder so hoffnungslos wie mancher Dortmund-Endzeitfilm zuvor daherkommt, daran kann auch die zarte Liebesgeschichte der beiden vom Leben zerknitterten Kommissare Faber und Bönisch nichts ändern. Zumal diese Liebe weiterhin unerfüllt bleibt. Auch deshalb, weil Bönisch sich ein bisschen mit dem sanften Leiter der KTU, Sebastian Haller (Tilman Strauss), eingelassen hat. Faber leidet dazu wie ein Hund.
Eine schöne Idee: Der um die 50 Jahre alte Kommissar holt seine zur gleichen Generation zählende Verehrte mit einem frisch erworbenen Retro-Opel-Manta und dem fast ebenso alten Welthit "Sunshine Reggae" zu Hause ab. Kulturelle Überbleibsel und Echos aus Zeiten, in denen es den Protagonisten einmal besser ging – wie man dem seligen Lächeln Fabers am Steuer entnehmen kann.
Was macht man nun mit diesem "Tatort"? Ähnlich wie so manche Dortmunder Folgen zuvor wird er Publikum und Kritiker spalten. Erzählerisch ist der Krieg im Kiez schon ziemlich dick aufgetragen. Mit Figuren, die mitunter nah am Klischee wandeln. Trotzdem – und auch das ist Dortmunder Usus – gibt es wunderbare Ideen und Szenen in diesem dystopischen Rausch, der ein Deutschland der Hater und sozialen Medien-Honks anprangert. Wer Letztere analytisch betrachten möchte, sollte auf die Mediatheken-Version des "Tatorts" zurückgreifen und dort immer wieder mal die Stopptaste betätigen. So kann man sich die aufpoppenden (gut ausgedachten) Netz-Kommentare detailliert reinziehen, was im Live-Modus unmöglich wäre. Kommissar Faber würde jedoch von dieser Methode abraten. Der ganze neumodische Kram hat die Welt offensichtlich nicht besser gemacht. Nach Ansicht dieses "Tatort"-Kriegs in den Städten, muss man dem Mann leider Recht geben.
Tatort: Heile Welt – So. 21.02. – ARD: 20.15 Uhr