Der "Tatort: Murot und das 1000-jährige Reich" hat zwar eine Rahmenhandlung in der Gegenwart, klarer Erzähl-Schwerpunkt liegt aber auf dem Jahr 1944: Kommissar Rother (Ulrich Tukur) strandet wegen einer Autopanne in einem hessischen Dorf. Dort gibt es für den Nazi-Ermittler bald einen Fall zu lösen.
Was haben die Fans des traditionellen "Tatort"-Krimis schon alles wegen des Freigeistes Ulrich Tukur ertragen müssen? Da gab es zum Beispiel eine Zeitschleifen-Folgen ("Murot und das Murmeltier") und eine, in der sein Kommissar Murot dem Schauspieler Ulrich Tukur begegnete ("Wer bin ich"?), damit Rolle und Darsteller über das Wesen der Realität streiten konnten. Da war es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis Geschichts- und Retrofan Tukur mal (fast) eine gesamte Folge um Jahrzehnte zurückverlegt. Dies ist nun mit dem "Tatort: Murot und das 1000-jährige Reich" passiert: Ulrich Tukur spielt den Nazi-Sonderermittler Rother, der 1944 mit seinem jungen Assistenten Hagen von Strelow (Ludwig Simon) und einer kleinen Entourage mit dem Auto in der hessischen Provinz liegen bleibt. Dabei beobachten sie den Absturz eines britischen Kampfflugzeugs ganz in der Nähe. Nachdem die Durchreisenden in ein Dorf abgeschleppt wurden, wird klar: Die Reparatur des Fahrzeuges wird ein paar Tage dauern. Die Nazi-Polizisten steigen im Gasthof von Clara Breuninger (Imogen Kogge) und ihrer Helferin Else Weiß (Barbara Philipp) ab. Wenig später wird der abgestürzte britische Pilot tot aufgefunden.
Der Mann ist jedoch nicht im Flieger gestorben, sondern er wurde ermordet. Offenbar hatte der Brite brisante Papiere dabei, die für den weiteren Verlauf des Krieges sehr relevant sein könnten. Ermittler Rother versucht, die Bevölkerung des Dorfes näher kennenzulernen, um einzuschätzen, wer im langsam untergehenden Nazi-Reich sagt, was er auch denkt, und wer die Treue zum Führer lediglich vorgaukelt.
Man lernt den Berliner Ex-Professor Bernd Tabler (Cornelius Obonya) kennen und das Schmied-Ehepaar Lobus (André Meyer, Melanie Straub) sowie dessen kleine Tochter Waltraud (Viola Hinz). Auch die Soldaten rund um Rother und dessen ehrgeizigen Mitarbeiter von Strelow sind schwer einzuschätzen. Wer könnte den Briten ermordet haben und weshalb? Wo sind dessen geheime Papiere hin verschwunden? Eingebettet wird die Krimihandlung des Jahres 1944 in eine – sehr knapp gehaltene – Rahmenhandlung in der Gegenwart. Darin warten Murot und Wächter (ebenfalls Ulrich Tukur und Barbara Philipp) am Frankfurter Flughafen auf die Auslieferung eines greisen Nazi-Verbrechers: Es ist Hagen von Strelow.
Man muss die Altersspanne seiner Figuren schon ziemlich ausreizen, um 2024 noch von spät überführten Nazi-Verbrechern zu erzählen. Die Autoren Michael Proehl und Dirk Morgenstern schrieben schon den vor drei Wochen gesendeten, ziemlich durchgedrehten Janneke und Brix-Abschiedsfall "Tatort: Es grünt so grün, wenn Frankfurts Berge blühen". Ihr neues Logik-Experiment in Sachen Krimi-Unterhaltung lösten sie so, dass sie einen Hundertjährigen in ein Flugzeug setzten, damit er von den Geistern seiner Vergangenheit – was in einer schönen Szene wörtlich zu nehmen ist – eingeholt wird.
Dieser Rahmen tut jedoch weniger zur Sache als die Ermittlung von 1944, die ziemlich für sich steht. Rothers Fall ist der eigentliche "Tatort" und damit die wohl älteste Ermittlung in der Geschichte des Formats. Interessant macht den Fall weniger seine Konstruktion, sondern die Tatsache, dass Rother/Tukur hier in einem Umfeld von Verdächtigen und Zeugen ermitteln, die nicht nur eventuell einen Mord vertuschen, sondern auch die Enthüllung ihrer wahren politischen Meinung fürchten – mit eventuell tödlichem Ausgang für sie selbst. Dass man bei sämtlichen Figuren, auch den deutschen Soldaten und Ermittlern, nicht so genau weiß, wie treu sie dem Regime gegenüber sind, macht den Reiz des Films aus. Inszeniert wurde er von Regisseur Matthias X. Oberg, der schon 2022 die Folge "Tatort: Murot und das Gesetz des Karma" inszeniert hatte.
Erstaunlich ist: Der 13. "Tatort" mit Felix Murot ist trotz seiner aberwitzigen Grundidee am Ende doch arg konventionell geraten – sowohl in Sachen Krimi-Plot wie auch ästhetisch. Wer sich also auf den neuen Ermittler Rother einlassen kann, ein schrulliger Hercule Poirot-Verschnitt mit Hakenkreuz am Revers und dem Gesicht Ulrich Tukurs, kann sich für Murot-Verhältnisse fast schon auf einen klassischen Krimi freuen. Der ist allerdings nur halb gelungen. Hinter der Idee des Mordfalles innerhalb einer engen Dorfgemeinschaft und unter der Knute des Nazi-Regimes sind die Figuren eher oberflächlich und in ihrer Schlichtheit bisweilen unfreiwillig komisch geraten. Da ist man vom in Sachen Filmkunst umtriebigen Hessischen Rundfunk eigentlich Besseres gewohnt.
Ein paar schöne Momente gibt es dennoch. In einer Szene spielt Ulrich Tukur mal wieder Klavier und singt im Wirtshaus Adolf Hitler-Spottlieder vor den Augen und Ohren der Dorfgemeinschaft. Seinem aufgebrachten Assistenten erklärt der Ermittler später, beim Blick in die Gesichter der Zuhörerschaft könne er feststellen, wer den Führer tatsächlich noch unterstützt. Natürlich eine historisch unrealistische Szene, denn Faschismus kennt in der Regel keinen Humor. Dass der mittlerweile 67 Jahre alte Ulrich Tukur noch ein paar "Tatorte" mit besonderen Ideen dranhängt, darauf muss man dennoch hoffen – auch, wenn es wahrscheinlich nicht mehr allzu viele werden. Konventionelle Krimis gibt es nämlich schon genug.
Tatort: Murot und das 1000-jährige Reich – So. 20.10. – ARD: 20.15 Uhr