Was geht beim Marathonlauf im Gehirn vor? Kann Ausdauersport das Denkvermögen steigern und Krankheiten wie Alzheimer im Zaum halten? Sportwissenschaftler halten das für möglich.
Der läuft sich noch zu Tode, mag manch einer denken, wenn er eines Joggers ansichtig wird. Der trabt bei Wind und Wetter, wie von einem versteckten Motor getrieben, tagtäglich über eine Strecke, die ihn erst nach ein, zwei Stunden wieder ins warme Zuhause zurückführt ...
Mit so was fange ich gar nicht erst an, sagt sich der stille Beobachter am Schreibtisch hinter der Gardine: Ich müsste schön blöd sein, meine Gelenke und meine Gesundheit solchen Strapazen auszusetzen!
Von wegen "schön blöd"! Am Ende könnten dem Läufer die besseren Argumente gehören.
An Sporthochschulen und anderen Instituten wird erforscht, was eigentlich im Gehirn passiert, wenn der Mensch läuft – wenn er also das tut, was ihm vorgegeben ist, seit seine Urahnen vom Baum stiegen und ihr Auskommen am Boden suchten.
Die Vermutung: Neue Gehirnzellen könnten sich bilden, neue Verquickungen könnten entstehen. Wie beim Musikspielen, Schachspielen oder Taxifahren ohne Navi. Warum nicht auch beim Sport und erst recht beim strapaziösen Ausdauersport?
Schmerzen vergessen
Dass Bewegung positive Auswirkungen auf das Gehirn hat, ist lange bekannt. Doch geht es in der Forschung heute um mehr. Sport kann offenbar die kognitiven Bereiche des Gehirns, zuständig für Wahrnehmung und Erkenntnis, vorübergehend entlasten.
Während des Laufens verringern sich die Denkvorgänge, um hernach umso leistungsstärker wieder auf Touren zu kommen.
Der Kopf wird beim Laufen frei. Es kommt zu Glücksgefühlen, dem sogenannten "Runner's High". Laufen setzt Endorphine frei, das sind körpereigene morphinähnliche Substanzen, die bei der Verarbeitung von Gemütserregungen eine Rolle spielen und schmerzunterdrückende Wirkung zeigen.
Hohe Dosen von Endorphinen waren wohl ursprünglich für lebensbedrohliche Situationen vorgesehen. Steinzeitmenschen, die von wilden Tieren verfolgt wurden, konnte sich nicht einfach hinsetzen und sagen: "Ich kann nicht mehr, mir tut alles weh!"
Die Endorphine bewirkten, dass sie die Schmerzen vergaßen und Leistungsbzw. Überlebensreserven aktivierten, die ihnen eine Chance gaben; Tiere gehen mit ihrer Energie haushälterisch um und lassen schon mal von allzu aufwendiger Jagd ab.
Bislang konnten die Endorphine nur im Blut nachgewiesen werden. Dass sie bei Sport auch im Gehirn aktiv sind, war eine Vermutung. Im Labor des Instituts für Radiologie der Universität Bonn ist es, wie in der Radioreihe swr2/wissen berichtet wurde, den Wissenschaftlern um Prof. Henning Boecker gelungen, das Auftreten von Endorphinen direkt im Gehirn zu messen.
Fazit: Joggen macht nicht nur den Kopf frei, sondern auch schmerzfrei. Die verstärkte Produktion von Endorphinen wirkt wie ein körpereigenes Schmerzmittel.
Gegen Alzheimer und Parkinson
Der Badwater Ultramarathon im kalifornischen Death Valley findet bei Temperaturen von 50 Grad statt. Beim Montane Yukon Arctic Ultra, Kanada, liegen die Temperaturen zwischen –12 und –25 Grad.
Um diese Strapazen zu verkraften, reicht der übliche Stimmungsschub, das Runner's High, nicht aus: Ultraläufe bedeuten für den Körper eine extreme Belastung.
Was aber passiert im Gehirn des Ausdauersportlers, wenn er bei solchen Extrembeanspruchungen schlappmacht?
Welchen Anteil hat das ermattete Gehirn beim Zustandekommen von Verletzungen? Solchen Fragen gehen Prof. Jochen Baumeister und Prof. Claus Reinsberger von der Universität Paderborn am Lehrstuhl für Sportneurologie nach.
Das Gehirn weist, anders als Muskeln, keine einheitliche Struktur auf. Es handelt sich eher um ein Netzwerk, ein Gebilde, das die Wissenschaftler verstehen wollen. Einer der wichtigsten Biomarker der Sportmedizin ist das Lactat. An der Lactatkonzentration im Blut kann man ablesen, wie müde ein Muskel ist und wann ein Training beendet werden muss. Doch welche Körpersubstanz könnte vom Ermüdungszustand des Gehirns künden? Was wäre das Lactat des Gehirns?
Um diese Frage zu beantworten, arbeitet Baumeister mit norwegischen Biathleten an deren Olympiastützpunkt in Trondheim zusammen. Institutsleiter Reinsberger ist überzeugt, dass es eines Tages möglich sein wird, gegen Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer mit speziellen Bewegungsabläufen vorzubeugen.
Neubildung von Synapsen im Gehirn
Man weiß: Ausdauersport und vor allem Laufen regt die Neubildung von Synapsen im Gehirn an, auch und gerade in den Bereichen für Lern- und Gedächtnisleistungen.
Schon haben Wissenschaftler der Universität HalleWittenberg eine Methode entwickelt, die es ermöglicht, den Ermüdungszustand des Gehirns hinauszuzögern. Sie baut auf dem Prinzip der Abwechslung auf: Wer dem Gehirn beim Training immer wieder neue Impulse bietet, kann das Eintreten der Ermüdungsphase tatsächlich verzögern – während des Trainings und auch beim Wettkampf. Wenn etwa ein TourdeFranceFahrer seinen Vorsprung vor dem Feld mit letzter Kraft ins Ziel retten möchte ...
Das Gehirn hat jede Menge Entwicklungspotenzial; der Langlauf bis hin zum Marathon (und weiter) ist der Schlüssel zu seiner Erschließung.