17.11.2015 Hören

Schwerhörigkeit und das Gefühl von Verlorenheit

Von Gerhard Bleckmann
Als ob sie draußen vor der Tür stünde: Nicht zu verstehen, worüber andere reden, scherzen und lachen, stempelt
viele Menschen zu Außenseitern. In letzter Konsequenz kann nur ein Hörgerät für Abhilfe sorgen.
Als ob sie draußen vor der Tür stünde: Nicht zu verstehen, worüber andere reden, scherzen und lachen, stempelt viele Menschen zu Außenseitern. In letzter Konsequenz kann nur ein Hörgerät für Abhilfe sorgen. Fotoquelle: Photodisc/Getty Images

Warum ist Schwerhörigkeit immer noch mit einem Tabu belegt? Viele Menschen überspielen ihre Probleme.

Einsamkeit kann eine Frage des Hörens sein, des schlechten Hörens. Klassisch ist das Bild der verlorenen Schlechthörerin (oder Schwerhörigen) im Kreis plaudernder Kollegen. Es muss nicht einmal Scham sein, die sie daran hindert, aufzustehen und zu sagen: Liebe Leute, ich gehe, ich kann kein Wort verstehen!

Nein, hier geht es um eine Erkenntnis, der sich viele Betroffene so lange wie möglich verweigern: dass sie mit eingeschränktem Hörvermögen isoliert sind.

In einer Kneipe mit ihrem Schall, ihrer Musik und dem Gelächter von allen Seiten, kommt das Ohr einfach nicht mehr mit. Die Schlechthörige fühlt sich ausgeschlossen. Doch gehört Lärm in Sälen, tobenden Stadien und bassdurchwummerten Diskos zu unserer Freizeitkultur.

Und wie sieht es im Beruf aus, in einem Meeting? Irgendwo sitzt einer am Tisch, der sich darin gefällt, möglichst leise zu sprechen. Vielleicht hat er das auf einem Seminar gelernt; oder er hat nicht genügend Selbstvertrauen, laut und deutlich zu reden. Für die Schlechthörige ist es eine Qual. Sie verpasst ihren Einsatz, wenn sie gefragt wird. Sie muss bestimmte Punkte der Debatte nachher bei einer Kollegin erfragen.

Helfen würde ein Hörgerät. Doch dafür muss man beim Hörtest schon ordentlich unter die Trennlinie von Nichtsogut und Schwerhörig gerutscht sein. Sonst zahlt die Kasse nicht. Und seltsam auch, während Brillen zusehends zum Accessoire mit Sex-Appeal werden, kommt das Hörgerät erst ins Spiel, wenn es nicht mehr anders geht.

14 bis 15 Millionen Menschen in Deutschland haben Hörprobleme, aber nur etwas mehr als 2,5 Millionen nutzen Hörgeräte. Es muss eine Schwelle geben, die beim Hören schwerer zu überschreiten ist als beim Sehen. Die Hörfähigkeit nimmt mit zunehmendem Alter ab. Natürlicher Verfall einerseits. Andererseits eine Folge schädlicher Einflüsse.

Tatsache ist: In der Altersklasse der 50- bis 60-Jährigen leidet jeder Fünfte unter Hörverlust. (Diese wie auch andere Zahlen entnehmen wir Erhebungen des führenden Hörgeräte-Herstellers Kind.)

Auch unter Jugendlichen ist das gute Gehör keine Selbstverständlichkeit. Im Schnitt kommen fünf von 1000 Neugeborenen schwerhörig auf die Welt. Jeder vierte Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahren leidet unter einem mehr oder weniger ausgeprägten Hörschaden.

Taub aus dem Fußballstadion

Die häufigste Ursache für Hörverlust sind Lärmbelästigungen am Arbeitsplatz und in der Freizeit. Während sich viele Menschen daheim unterm Kopfhörer oder auch im Auto freiwillig so richtig was auf die Ohren geben ("bis uns Hören und Sehen vergeht"), ist Lärmschwerhörigkeit unter Arbeitern, die in maschinenintensiver Umgebung malochen, erstens ungewollt und zweitens die am häufigsten anerkannte Berufskrankheit.

Nach Angaben der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung ist zu großer Lärm für 39 Prozent der anerkannten Berufskrankheitsfälle verantwortlich.

Der Hörverlust beginnt häufig bei hohen Frequenzen, derweil tiefe Töne und dunkle Stimmen noch passabel zu verstehen sind.

Im weiteren Verlauf des Prozesses verringert sich das Spektrum der Hörbarkeit, die Verständigung wird zunehmend schwerer – bis hin zu den beschriebenen Szenen in Kneipe oder Meeting.

Gewiss muss nicht jeder Anflug von schlechterem Hören auf beginnende Schwerhörigkeit hindeuten, so wie ja auch nicht jede vergessene Äußerung des Ehepartners den Beginn von Demenz signalisiert.

Musikumflutete Welt

In unserer musikumfluteten Welt stellt sich ohnehin oft die Frage, was denn eigentlich unter einem guten Klang zu verstehen sei. Man denkt, man hätte es am Ohr, dabei sind CD oder DVD saumäßig produziert.

Vor allem zeitgenössische Klassik-Editionen erscheinen oft flach und leblos: eine Frage des Equipments, das billig erstanden wurde und kaum den gewünschten durchsichtigen Klang hervorbringt. (Tonmeister alter Schule zauberten oft Besseres aus ihren analogen Geräten.)

Woran liegt es, wenn man nach einem Bundesligaspiel wie taub aus dem Stadion von Schalke 04 oder Borussia Dortmund taumelt? War der gewaltige Geräuschpegel zu viel für meine Ohren? Muss ich zum Ohrenarzt? Oder ist es nur so, dass die Lärmkulisse den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt?

Es könnte sich um Schallempfindungsschwerhörigkeit handeln. Dann sind die feinen Haarwurzeln in der Hörschnecke geschädigt, sei es durch den Lärm oder schon vorher infolge von Entzündungen im Innenohr oder Immunerkrankungen. Medikamente helfen in der Regel nicht, nur ein Hörgerät kann den Verlust ausgleichen.

Glimpflicher geht es bei der sogenannten Schallleitungsschwerhörigkeit zu, bei welcher Gehörgang oder Mittelohr betroffen sind. Hier reichen oft einfache Eingriffe oder Medikamente zur Hörverbesserung.

Dennoch bleibt die ausgeprägte Zurückhaltung beim Tragen eines Hörgeräts befremdlich und für manchen Betroffenen nicht ohne Risiko. Wer schlecht sieht, muss im Auto seine Brille aufsetzen; wer schlecht hört, fährt trotzdem und gefährdet sich und andere. Die US-Studie "MarkeTrak VIII" zeigt, dass neun von zehn Hörgeräte-Trägern eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität durch Hörgeräte empfinden. Doch stoßen solche Erkenntnisse hierzulande oft auf taube Ohren.

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