Über ein Jahr saß Deniz Yücel in einem türkischen Gefängnis. Es war der Tiefpunkt deutsch-türkischer Beziehungen. Pinar Atalay erkundet für eine "Story im Ersten" in Interviews mit Yücel, was damals wirklich passierte.
Wer Deniz Yücel persönlich kennenlernte, weiß, dass er ein besonderer Mensch ist. Ein hochemotionaler Streiter für Gerechtigkeit. Einer, der das Leben in Freiheit über alles schätzt. 290 Tage saß der Korrespondent der "Welt" in strenger türkischer Einzelhaft. Über ein Jahr dauerte sein Gefängnisaufenthalt. Durch kritische Berichterstattung hatte der aus dem hessischen Flörsheim stammende Deutschtürke als Journalist den Hass des Erdogan-Regimes auf sich gezogen. Dessen Vorwurf an Yücel lautet: Terrorpropaganda. Die Journalistin und "Tagesthemen"-Moderatorin Pinar Atalay traf den seit seiner Haftentlassung im Februar 2018 zurückgezogen lebenden Yücel nun für ein mehrtägiges Interview.
"Nachdem ich über ein Jahr lang immer wieder über den Fall Yücel berichtet hatten, war mir klar: Diese Geschichte muss als langer Film erzählt werden. Ich habe Deniz Yücel dann angeschrieben und nach einem fünfstündigen, intensiven persönlichen Gespräch hat er zugesagt, obwohl er zuvor andere große Interviews abgelehnt hatte", erklärt Pinar Atalay. "Wir haben uns über mehrere Tage in seinem neuen Zuhause getroffen", erinnert sie sich. "Das Interview ging über mehrere Stunden. Für mich besonders spannend, da ich in den 'Tagesthemen' immer nur wenige Minuten mit meinem Interviewpartner zur Verfügung habe. Der Ort soll nicht öffentlich werden, was ich nachvollziehen kann." Zusammen mit ihren Partnern Astrid Reinberger und Michael Höft arbeitet Atalay in ihrem Beitrag "Die Story im Ersten: Deniz Yücel" (Montag, 15. April, 22.45 Uhr, ARD) den Verlauf des Falles detailliert auf.
Warum traf es ausgerechnet ihn? Womit provozierte Yücel die Machthaber in Ankara so, dass die einen Eklat mit der Bundesregierung in Kauf nahmen? Wie liefen Verhaftung und Haft des Springer-Korrespondenten ab und mit welchen Mitteln bekam man den Journalisten letztendlich frei? Ein gutes Jahr nach Yücels Freilassung werfen ebenso spannende wie analytische 45 Minuten einen kritischen Blick auf die Umstände von dessen Freilassung.
"Der Fall Yücel hat das ganze Land über ein Jahr lang bewegt", sagt auch Atalay, die in ihren Nachrichtensendungen immer wieder über die Politaffäre und das menschliche Drama berichtet hatte. "Die deutsch-türkischen Beziehungen waren an einem Tiefpunkt angelangt. Der Film soll zeigen, wie es so weit kommen konnte, er erzählt aber auch von der Solidarität, die Yücel erfahren hat. Viele Menschen, unter ihnen auch Prominente, haben sich für ihn eingesetzt, während er in Einzelhaft hinter türkischen Gittern saß. Der Film erzählt diese in ihrer Form einzigartige Geschichte, und er zeigt auch, wie hoch das Gut der Pressefreiheit ist."
Sigmar Gabriel äußert sich zu den Umständen der Freilassung
Doch warum mobilisierte nur Yücels Fall eine so breite Öffentlichkeit, während viele andere inhaftierte Journalisten und Regimekritiker – darunter auch weitere mit deutschen Wurzeln – nach wie vor in türkischen Gefängnissen sitzen? Liefen Deals zwischen der Bundesregierung beziehungsweise ihrem Unterhändler Gerhard Schröder und dem Erdogan-Regime? Pinar Atalay konfrontiert unter anderem den damaligen Außenminister Sigmar Gabriel mit jenen wiederkehrenden Vorwürfen, im Hintergrund wären Waffengeschäfte "im Austausch" für die Freilassung gelaufen.
Interessant ist jedoch auch der psychologische Aspekt des Falles: Pinar Atalay begegnet mit dem charismatischen Yücel ein fast schon aberwitzig undiplomatischer Provokateur, der mit seiner radikalen Freiheitsliebe auch jenen Menschen einen Spiegel vorhält, die in Sachen Demokratie und freier Meinungsäußerung mittlerweile "kleinere Brötchen" backen, um das Gesamtkonstrukt des politischen Gleichgewichts nicht aus dem Tritt zu bringen. Müssten wir nicht alle ein wenig mehr Deniz Yücel sein, fragt man sich? Oder ist der Mann ein Träumer, der das Werk aller "Realpolitiker" und Diplomaten in Gefahr bringt?
"Deniz Yücel ist ein meinungsstarker Journalist, der auch polarisiert", beantwortet Atalay diese Frage. "Und er ist sicher nicht naiv und wusste wohl, was ihm drohen könnte." An jener Stelle hätte man sich fast noch ein wenig mehr Tiefe in Atalays Film gewünscht. Dennoch bleibt die Nach-Konstruktion eines Politskandals und menschlichen Dramas ein in seinen zahlreichen Details sehr lehrreiches Programm über die Welt der Diplomatie in Zeiten, da autokratische Systeme immer selbstbewusster agieren.
"In der Türkei sitzen derzeit immer noch etwa 160 Medienschaffende, darunter viele bekannte türkische Journalisten, in Haft", mahnt die deutsche Journalistin mit türkischen Wurzeln. "Das zeigt, Yücel ist kein Einzelfall. Wer kritisch berichtet, also seinen Job als Journalist macht, kann ins Visier geraten." Auch wenn sich "Die Story" auf den Fall Yücel konzentriert, die Tatsache, dass bei den anderen Gefangenen weit weniger "Protest" stattfindet, wird im Film nicht verschwiegen. "Einige der Inhaftierten und ihre Angehörigen würden sich eine ähnlich große Aufmerksamkeit für ihren Fall wünschen. Dass die Öffentlichkeit sich für sie einsetzt, allen voran die deutsche Bundesregierung. Was im Fall Deniz Yücel passierte, ist bislang einzigartig." So bleibt selbst beim Happy End, das "Die Story" erzählt, auch ein wenig schaler Beigeschmack.
Quelle: teleschau – der Mediendienst