Frontmann der Simple Minds

Jim Kerr: "Es fühlt sich toll an, dem Publikum etwas zu geben"

27.10.2022, 14.43 Uhr
von Felix Förster
Jim Kerr (rechts) und Charlie Burchill haben die Simple Minds 1977 in Glasgow gegründet.
Jim Kerr (rechts) und Charlie Burchill haben die Simple Minds 1977 in Glasgow gegründet.   Fotoquelle: Dean Chalkley

Jim Kerr, der Sänger der Simple Minds hat mit Hits wie "Belfast Child", "Alive and Kicking" und natürlich "Don"t You Forget About Me" Musikgeschichte geschrieben. Gemeinsam mit dem anderen Gründungsmitglied der Band, Charlie Burchill, führt er das Label "Simple Minds" nun seit über 40 Jahren an. In neuer Besetzung hat die schottische Band nun mit "Direction Of The Heart" ein neues Album vorgelegt. prisma hat Jim Kerr zu den neuen Songs, der wechselhaften Geschichte der Band und seinem Antrieb, Musik zu machen, befragt.

Die Simple Minds wurden 1977 gegründet. Hätten Sie damals je erwartet, 45 Jahre später immer noch aktiv und auf Tour zu sein?

Jim Kerr: 1977 waren meine Eltern noch nicht einmal 40. Damals hatten wir keinen Schimmer, was in 40 Jahren sein wird. Uns war damals nur wichtig, von einem Monat zum nächsten zu kommen. Können wir noch Auftritte bekommen? Können wir genießen, was wir tun und uns dessen bewusst sein? Eines hat sich aber nicht geändert und das weiß ich so genau, weil ich mir kürzlich eines unserer ersten Interviews aus dieser Zeit angeschaut habe. Ich sagte dem Interviewer damals, ich möchte nicht nur in einer Band sein, ich möchte in einer großartigen Live-Band sein. Wir sind damit aufgewachsen, große Live-Bands zu sehen, und wir wollten unsere Musik um die Welt tragen. Charlie Burchill und ich hatten damals angefangen, per Anhalter durch Europa zu reisen, und wir witterten die Welt dahinter. Wir wollten versuchen, unseren Lebensunterhalt mit der Musik zu bestreiten. Und hier sind wir, 45 Jahre später – wir stellen uns immer noch den Herausforderungen dieses Lebens und haben immer noch dasselbe Verlangen wie damals.

Mögen Sie das Leben auf Tour denn immer noch? Oder ist es manchmal auch anstrengend?

Jim Kerr: Nicht der Auftritt an sich ist anstrengend, da hast du diese Energie, das Adrenalin, diese Zielstrebigkeit. Wenn es gut läuft, bekommt man diese Bestätigung am Ende des Auftritts. Es fühlt sich toll an, ein Teil davon zu sein, dem Publikum etwas zu geben. Dieses Gefühl vergeht niemals. Aber klar, wenn man älter wird, wird man auch etwas ungeduldiger bei Kleinigkeiten. Auch das Reisen fällt einem nicht mehr ganz so leicht. Aber hey, das ist der Job, das ist der rein berufliche Teil davon.

Warum nehmen Sie dann auch noch weiterhin Alben auf, anstatt es so wie viele andere Bands und Musiker zu machen und zu touren, um die alten Hits zu spielen?

Jim Kerr: Weil wir kreative Menschen sind. Das ist das Wichtigste und wir wüssten auch nicht, wie wir aufhören könnten, kreativ zu sein. Das ist einfach, wer wir sind. Zudem frischt jedes neue Album unseren Katalog auf und fügt unserer Geschichte ein weiteres Kapitel hinzu. Ob das neue Kapitel dann so gut ist wie Kapitel 5 oder 6, ist völlig subjektiv zu bewerten und eigentlich gar nicht so wichtig. Natürlich schon wichtig, wenn du daran arbeitest, aber das Wichtigste ist, die Geschichte weiterzuerzählen. Es würde sich nicht richtig anfühlen, unsere eigene Tribute Band zu sein, es würde sich nicht gut anfühlen, sein eigenes Museum zu sein. Schauen Sie sich die Rolling Stones oder The Who an, die wirklich schon langer Zeit aufgehört haben, kreativ zu sein.

Sie hatten im Laufe Ihrer Bandgeschichte viele Änderungen im Bandgefüge. Ist das auch ein Grund für Ihre frische Herangehensweise?

Jim Kerr: Das ist ein großer Grund. Ich meine, es ist nicht einfach mit diesen Wechseln, denn wenn du es übertreibst, verlierst du den Kern, die Identität. Aber du musst die Veränderungen zur rechten Zeit, mit den richtigen Leuten machen. Aber ja, es ist wie einen neuen Motor zu starten, zu sehen, was dir das bringt. Für uns ist es so, dass wir letztlich immer mit bemerkenswerten Leuten arbeiten.

Gibt es denn einen Grund für diese vielen Wechsel? War das Zufall oder warum gab es sie?

Jim Kerr: Manchmal ist es einfach so, dann arbeitest du einfach mit jemandem und denkst, das war jetzt genug, wir brauchen eine Auffrischung. Das klingt vielleicht kalt, aber es sind über 40 Jahre, und da ist es manchmal einfach so. Manche verlieren den Ball aus den Augen wie wir sagen, andere langweilen sich plötzlich oder geben nicht mehr alles. Wir haben sehr hohe Ansprüche.

Auf Spotify haben Sie aktuell über acht Millionen monatliche Hörer und Sie sind bekannt für Ihre breite Fan-Basis. Ist das etwas, das Ihnen wichtig ist? Ist es wichtig für Sie, irgendwie immer noch relevant zu sein?

Jim Kerr: Ja klar, denn wir machen Musik, um gehört zu werden. Und das Schönste ist doch, wenn die Leute uns nicht nur hören, sondern die Musik auch noch mögen. Deshalb ist es ja auch wichtig, die Musik zu promoten. Wir haben ja erst einmal keine Ahnung, wie die Musik ankommt. Es ist ein wenig so, als würde man eine Flaschenpost abschicken, denn du weißt nicht, wie sie ankommt, denn der Musikgeschmack ist subjektiv. Es ist großartig, wenn die Musik den Leuten gefällt, sie ähnlich wie wir fühlen, wenn sie die Songs hören. Besonders daran ist auch, dass man sich weniger einsam fühlt, und sich denkt: Hey, da sind Leute wie ich, sie verstehen das, was ich aussagen möchte. Das ist wunderbar, denn wir haben alles erlebt: wie es ist, angesagt zu sein; wie es ist, völlig aus der Mode zu sein; wie es ist, gelobt zu werden, aber auch wie es ist, lächerlich gemacht zu werden. Aber das passiert doch letztlich allen, die eine lange Karriere haben.

Man kann es ja auch am Beispiel von Kate Bush aktuell sehen: ein Song, der in einer beliebten Netflix-Serie läuft, wie ihr Hit von 1985 "Running Up That Hill" in Stranger Things, und schon ist man wieder angesagt.

Jim Kerr: Ja, das war großartig für sie. Aber wissen Sie, was ich mir jetzt wünschen würde? Dass sie ein Album machen würde. Verstehen Sie mich richtig, ich erzähle nicht einer Kate Bush, was sie zu tun hat. Das mache ich bei niemandem, und es ist toll, dass ihr Song so abgeht. Aber in Verteidigung für die Simple Minds: Wir haben ein neues Album mit neuen Songs! Wir mögen es einfach, neue Kapitel dieser Fortsetzungsgeschichte zu schreiben.

Ihre letzten drei Alben vor dem neuen, das "Direction Of The Heart" heißt, waren "Graffiti Soul", "Big Music" und "Walk Between Worlds". Die Scheiben wurden alle in der Presse gelobt, ist das etwas, das Ihnen wichtig ist? Ich meine, weil es ja Zeiten gab, in denen es anders war.

Jim Kerr: Es macht einiges einfacher, so viel ist klar. Es ist für jeden, der an einem Album mitarbeitet, eine schöne Bestätigung. Wenn die Alben gemocht werden, ermutigt es dich als Musiker.

Wie war die Arbeit an dem neuen Album? Charlie Burchill und Sie haben Ihre Teile in Sizilien aufgenommen, andere Teile wurden in London und Hamburg eingespielt.

Jim Kerr: Es ist schon lustig, wir wollten ein "Feel-Good-Album" in der schlimmsten aller Zeiten aufnehmen (lacht). Meine Generation und auch die nachfolgenden haben ja bisher keine richtigen Krisen oder so etwas miterlebt, und dann hat diese verrückte, irgendwie surreale Covid-Pandemie die ganze Welt übernommen, und es war sicherlich eine Herausforderung für alle. Denn nicht nur die Arbeitswelt wurde gestoppt, sondern unsere ganze Art des Lebens. Wir hatten gerade unsere Tour begonnen, hatten zehn Konzerttermine gespielt, als wir uns auf einmal wieder zuhause wiederfanden. Diese ersten paar Monate waren ja sehr hysterisch, wenn Sie sich erinnern. Es hieß, die Menschen werden nie wieder reisen können, nie wieder ins Kino gehen, nie wieder zusammen Aufzüge benutzen (lacht).

Sie haben das Beste aus der Situation gemacht, indem Sie ein neues Album aufgenommen haben, oder?

Jim Kerr: Irgendwann mussten wir das einfach machen und sagen "Die Sache kann uns jetzt mal, wir müssen dieses in Flaschen arbeiten, jeder für sich, irgendwie beenden". Ironischerweise, wenn Sie über Deutschland im Moment sprechen und wie sich dort alles verschärft hat, wir haben am Anfang Vorteile davon gehabt, dass Ihr Land mit den Beschränkungen etwas langsamer war als Großbritannien. Wir haben in Hamburg dieses Studio genutzt, das wir sehr mochten und haben gesagt: Lasst uns dort arbeiten. Und grundsätzlich ist unser Leben so, wenn wir nicht touren, schreiben wir Musik und nehmen sie auf. So dachten wir eben, ok sie haben uns mit den Auftritten das eine Ding weggenommen, jetzt machen wir eben das andere. Ehrlicherweise gab es auch Elemente während dieser Situation, die wir auch genossen haben. Aber es stimmt schon, "Direction Of The Heart" ist ein Resultat der ganzen Ereignisse. Interessanterweise muss man auch sehen: Was waren die positiven Aspekte dieser ganzen Sache? Die Qualität des Albums lässt sich eben auch dadurch erklären, dass sonst nichts zu tun war (lacht). Wir mussten uns fokussieren, antreiben, ich meine, es gab keine Ablenkung, man konnte seine Familie nicht sehen, auch sonst niemanden. Man konnte keine Fußballspiele besuchen, keine Restaurants. Arbeiten war das einzige, und im Fall von "Direction Of The Heart" hat sich das auch gelohnt.

Das stimmt, das Album klingt auf der einen Seite sehr frisch, hat aber auch diesen typischen nostalgischen Simple-Minds-Sound. Sie arbeiten auf dem Album auch mit Sparks-Frontmann Russell Mael zusammen. Kannten Sie sich vorher schon?

Jim Kerr: Wir sind seit Jugendtagen große Fans der Sparks. Aber nein, wir kannten uns nicht, und haben uns bei unserer letzten Amerika-Tour kennengelernt. Wir waren sehr erfreut, als Russell zu einem der Gigs kam. Wir wurden einander vorgestellt und hatten ein gutes Gespräch. Er ist ein richtiger Gentleman, ich meine – wir waren nicht nur Fans, wir waren Riesenfans. Und dann kam es, dass wir ein- oder anderthalb Jahre später diesen Song "Human Traffic" hatten und jeder, der ihn hörte, mochte ihn.

Großartiger Text, der das tägliche Leben eines normalen Menschen wunderbar aus der richtigen Perspektive darstellt. Die Leute werden sich darin wiederfinden können.

Jim Kerr: Vielen Dank. Ja, das Alltagsleben und die Geschichte dieses Typen, der sich umschaut, sich entfaltet und denkt, diese ganzen Sachen in der Welt müssen doch aufhören. Aber ich dachte irgendwie, da fehlt noch etwas an dem Song. Wir brauchten noch ein Extra. Ich hörte den Song dann im Studio, als ich an meinem Laptop saß und ich weiß nicht warum, aber ich hörte Russells Stimme im Chorus. Wir waren dann sehr glücklich, dass Russell mitgemacht hat.

Das neue Album ist einerseits sehr elektronisch, klingt aber auch teilweise analog. Können Sie erklären, warum Sie sich für diesen elektronischen Sound entschieden haben?

Jim Kerr: Sie haben es bereits erwähnt, es gibt einen Sweet Spot, der alles zusammenfügt. Mit den Simple Minds ist es immer so, dass man nicht zur Vergangenheit zurückgehen kann, die ist vergangen. Das war die Zeit damals, und die ist vorbei. Aber bei bestimmten Sounds kann man die Vergangenheit wiedererwecken, diese besondere Atmosphäre schaffen. Wir wollten aber keine reine Nostalgie schaffen, sondern gleichzeitig auch den Moment fühlen, das Hier und Jetzt, was natürlich irgendwie ein Widerspruch und nicht leicht ist. Aber ich glaube, die elektronischen Sounds, die Charlie erschaffen hat, und seine tolle Gitarrenarbeit sorgen für eine gute Balance.

Sie hatten schon auf "Big Music" diesen elektronischen, aber auch großen Rocksound.

Jim Kerr: Ja, da haben wir mit diesem Sound begonnen. Ich glaube, das neue Album ist eine Fortsetzung der letzten drei Alben.

In Ihren Texten befassen Sie sich mit verschiedenen Themen: dem Tod Ihres Vaters, Eskapismus, dem Alltagsleben. Einige Songs haben wirklich erstaunliche Texte "Who Kills Truth", "Planet Zero" und "The Walls Came Down" sind da drei Beispiele. In "Planet Zero" singen Sie "Glaubst du an Planet Zero, glaubst du alles, was du gesehen hast? Träumst du jemals von Planet Zero?" Was ist "Planet Zero" für Sie?

Jim Kerr: Wir waren doch fast auf Planet Zero. All diese Monate mit den leeren Straßen. Die Welt schien zum Stillstand gekommen zu sein. Eine andere Zeile besagt ja "Ich sah die ganze Welt in Flammen". Das sind doch die Themen der Zeit, der ganze ökologische Aspekt. Oder der Song "The Walls Came Down": Ich meine, ich hätte als Teil meiner Generation, die miterlebt hat, wie die Mauer in Berlin fiel, nie gedacht, dass Mauern wieder ein Thema sein würden. Das sehen Sie in Amerika, aber auch in Europa, wo wieder Zäune gebaut werden und Grenzen eine Rolle spielen. Wenn man die Sachen, die um einen herum passieren, sieht, schreibt man die richtigen Songs darüber. Charlies Musik inspiriert mich aber auch zu den Songs.

In Ihren Songtexten gibt es keinen erhobenen Finger, es geht mehr über Understatement. Ist dieser Eindruck richtig?

Jim Kerr: Das ist wohl ein Teil des Älterwerdens (lacht). Als jüngere Songwriter waren die Inhalte offensichtlicher, wir waren direkter, denken Sie an "Belfast Child", an "Mandela Day". Wir fühlten mehr den Drang, loszuschlagen. Das ist der Geist der Jugend. Mit dem Alter wird man auf jeden Fall ein wenig zynischer, das ist mal sicher. Du siehst Politiker kommen und gehen, in meinem Fall habe ich realisiert, dass sie alle gleich sind (lacht). Aber die Probleme sind die Probleme, und du versuchst ein wenig, die Welt um dich herum zu malen und die Songs in Einklang mit den Themen des Tages zu bringen. Dann können die Leute entscheiden, was sie davon halten.

Ist es für Sie schwierig, die Balance zwischen politischen Aussagen und der künstlerischen Seite zu finden?

Jim Kerr: Ich liebe es, wenn es funktioniert. Nehmen Sie einen Song wie "Human Traffic" und den Chorus, der schon eine Art Pop-Chorus ist, musikalisch so voller Freude und dann der Text: "The whole world circles round and comes back again, it's high on fumes and misery". Das ist kein Pop-Chorus, aber gleichzeitig ist es einer, es ist eine Subversion, und es funktioniert. Das ist interessant, es kann wie in diesem Fall funktionieren. Nehmen Sie einen meiner Lieblingssongs aus den 80ern, Princes' "Sign O‘ The Times". Erst einmal hat er sich mit den ganzen Themen von damals beschäftigt, mit AIDS, Heroin, Gangs, aber gleichzeitig hört man da diesen groovigen Song und er findet sogar Zeit für Romantik in der letzten Zeile. Er findet Hoffnung, wenn Sie so wollen. Eigentlich sollte es nicht funktionieren, aber es funktioniert.

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