Sie sagt. Er sagt. von Ferdinand von Schirach

Prof. Elisa Hoven über den ZDF-Film und das deutsche Sexualstrafrecht

26.02.2024, 14.41 Uhr
von Julian Lorenz
Der Angeklagte Christian Thiede mit seiner Strafverteidigerin
Der Angeklagte Christian Thiede mit seiner Strafverteidigerin  Fotoquelle: ZDF / Julia Terjung

 Am 26. Februar zeigt das ZDF das Gerichtsdrama Sie sagt. Er sagt. von Ferdinand von Schirach. Professorin Elisa Hoven hat uns verraten, wie realistisch der Film ist und was sie am deutschen Sexualstrafrecht ändern würde.

Der ZDF-Film Sie sagt. Er sagt. von Ferdinand von Schirach, basierend auf einem Theaterstück von Ferdinand von Schirach, widmet sich folgendem Szenario: Vergewaltigungsvorwürfe werden laut und es steht Aussage gegen Aussage. Wie würden Sie die Herangehensweise des Films an diese heikle Thematik beschreiben?

Elisa Hoven: Der Film behandelt die heiklen und polarisierenden Fragen sexueller Übergriffe sehr nüchtern und sehr differenziert. Als Zuschauerin hält man zuerst die eine, dann wieder die andere Darstellung für wahr. So ist es auch häufig in echten Fällen. Die Wahrheit zeigt sich nicht so eindeutig und manchmal ist sie das gar nicht, weil eben jeder seine eigene Wahrheit hat. Das wird in diesem Film schön herausgearbeitet, ohne dass die Darstellung reißerisch oder einseitig ist.

Wie realistisch ist das Verhalten von Richtern und Anwälten im Film, der ausschließlich im Gerichtssaal spielt? Könnte so eine echte Verhandlung aussehen?

Der Film bildet die Realität im Gerichtssaal gut ab. Aus US-amerikanischen Serien kennen wir es, dass die Anwälte große Auftritte haben und flammende Plädoyers halten. Das ist in deutschen Gerichtssälen anders. Hier hat die Richterin eine führende Rolle, sie leitet das Verfahren und stellt primär die Fragen. Der Film findet da eine gute Balance, denn er gibt der Staatsanwaltschaft und vor allem der Nebenklage und der Verteidigung genug Raum für ihre Perspektive, ohne das amerikanische Muster zu kopieren.

Sie selbst sind als Verfassungsrichterin in Sachsen tätig. Wie sehr ähnelt das der Arbeit in einem Strafgericht?

Das ist ganz anders. Beim Verfassungsgericht haben wir selten mündliche Verhandlungen, weil Entscheidungen meist schriftlich getroffen werden. Die Verhandlungen werden hier auch ganz anders geführt. Es gibt einen Vorsitzenden, der Fragen an die Beteiligten stellt und die dann gemeinsam diskutiert werden. Es gibt keinen Angeklagten und keinen Verteidiger. Bei uns läuft es deshalb deutlich ruhiger ab.

In Schirachs Geschichte sind „Er“ und „Sie“ beide bekannte Persönlichkeiten. Damit löst der Fall natürlich ein riesiges Medienecho aus. Inwiefern beeinflusst der davon ausgehende Druck die Arbeit von Richtern und anderen Beteiligten?

Die Richter und Richterinnen geben ihr Bestes, um die Wahrheit herauszufinden und gerechte Entscheidungen zu treffen. Aber natürlich weiß man, dass man sich erst recht keinen Fehler erlauben darf, wenn man unter dem Druck der Medienöffentlichkeit steht. Außerdem ist die Wahrheit in solchen Fällen ja nicht nur für die Beteiligten, sondern auch für die Öffentlichkeit ganz entscheidend. Das hat man zum Beispiel im Fall von Gil Ofarim gesehen. Hier wurde die Wahrheitsfindung mit extrem großem Aufwand betrieben, um dem öffentlichen Interesse am Fall gerecht zu werden. Das hätte man in einem Verfahren, der für die Öffentlichkeit nicht von Bedeutung gewesen wäre, vermutlich nicht getan. Die Richter und Richterinnen sind sich ihrer Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit also bewusst.

Wie definiert das deutsche Strafrecht überhaupt den Begriff der Vergewaltigung?

Das ist eine gute Frage, denn genau daraus resultieren nicht wenige Missverständnisse. Das, was wir im alltäglichen Sprachgebrauch als Vergewaltigung bezeichnen, ist etwas anderes als das, was das Strafgesetzbuch darunter versteht. In dem Wort „Vergewaltigung“ ist das Wort ‚Gewalt‘ enthalten und genau das assoziieren die meisten Menschen mit der Vergewaltigung, also einen gewaltsamen sexuellen Übergriff. Das sieht aber das Strafgesetzbuch nicht so. Das StGB geht vom Grundtatbestand eines sexuellen Übergriffs oder einer sexuellen Nötigung aus. Beim sexuellen Übergriff muss es gar keine Gewaltanwendung geben. Es reicht, wenn das Opfer ‚Nein‘ sagt und der Täter trotzdem weiter macht. Wenn dieser sexuelle Übergriff dann im Eindringen in den Körper besteht, dann sprechen Juristen von Vergewaltigung. Es muss also keine Gewalt ausgeübt werden, um diesem Straftatbestand zu erfüllen. Das harmoniert aber nicht mit dem verbreiteten Verständnis des Wortes.

Können diese unterschiedlichen Definitionen auch in der Praxis problematisch sein?

Gerade wenn Urteile in der Presse kommuniziert werden und dann beispielsweise Täter wegen Vergewaltigung zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt wurden, fragen sich viele Menschen: Wie kann das sein? Wenn man sich den Fall dann aber näher ansieht, kann es sein, dass die Tat ganz anders war, als man sie sich beim Wort „Vergewaltigung“ vorgestellt hat. Dadurch sollen die Taten nicht relativiert werden, aber es gibt doch Unterschiede zu gewalttätigen Übergriffen.

Es kommt sicher häufig vor, dass die Aussage des einen gegen die Aussage des anderen steht. Welche Möglichkeiten zur Wahrheitsfindung hat die deutsche Justiz in diesen Fällen?

Gerade im Sexualbereich haben wir diese Aussage-gegen-Aussage-Konstellation häufig, weil das typischerweise Delikte sind, die im Privaten stattfinden, wo es keine Zeugen oder Videoaufzeichnungen gibt.

Manchmal ergibt sich etwas aus Nachrichten, die sich die Beteiligten später geschickt haben, wenn sich zum Beispiel jemand für sein Verhalten entschuldigt. In manchen Fällen gibt es auch Verletzungen, aber die müssen direkt nach der Tat ärztlich festgehalten worden sein. Am Ende kommt es oft darauf an, wie das Gericht die Glaubwürdigkeit der Personen und die Glaubhaftigkeit der Aussage bewertet. Wenn sich das Ganze dann noch in partnerschaftlichen Situationen abspielt, sind oft die Versionen beider Beteiligten plausibel. Das zeigt „Sie sagt. Er sagt.“ auch sehr gut. Beide Aussagen sind für sich genommen schlüssig, beide Geschichten könnten genauso stattgefunden haben.

Können in solchen Fällen psychologische Gutachter hinzugezogen werden?

Das wird teilweise gemacht. Solche Gutachten können die Richter in ihrer Entscheidungsfindung unterstützen, denn die spezialisierten Psychologen haben besondere Methoden für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung. Die Gutachten sind aber nicht verbindlich, die Richter und Richterinnen machen sich schlussendlich ihr eigenes Bild.

Trotz aller Anstrengungen kann vor Gericht keine der Versionen des Geschehens verifiziert oder falsifiziert werden – was nun?

Dann muss freigesprochen werden, denn da gilt der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. Wenn das Gericht nicht zu der Überzeugung gelangen kann, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Aussage der oder des Verletzten wahr ist, dann darf es keine Verurteilung geben. Das ist für die Opfer, wenn die Tat tatsächlich passiert ist, natürlich dramatisch. Man hat dann nicht nur die Tat durchleben müssen, sondern sieht auch noch, wie der Täter freigesprochen wird. Trotzdem ist der Freispruch in solchen Fällen in einem Rechtsstaat alternativlos.

Gerade bei Prozessen zu heiklen Vorwürfen wie Vergewaltigungen finden sich im Internet häufig Vorverurteilungen und extreme Aussagen. Können sich Beteiligte damit unter Umständen strafbar machen?

Der Grundsatz, im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden, gilt im Strafprozess. Jeder kann erst einmal für schuldig halten, wen er möchte. Aber wenn man sich öffentlich äußert, kann man sich durchaus strafbar machen, etwa wegen übler Nachrede oder Verleumdung. Danach macht man sich strafbar, wenn man über eine andere Person etwas Ehrenrühriges behauptet, ohne dass bewiesen werden kann, dass die Behauptung wahr ist.

Sie haben sicherlich schon einmal vom Freispruch erster und zweiter Klasse gehört.

Ja, aber das ist kein juristischer Begriff, sondern eher eine mediale Beschreibung. Dahinter stehen dann oft Zweifel am Urteil. Es gibt Freisprüche, bei denen erwiesen wird, dass die Tat so nicht stattgefunden hat, wenn die die Beweise ganz eindeutig zeigen: Der oder die Angeklagte war es nicht. Und es gibt Freisprüche, bei denen man nicht feststellen kann, ob die Tat passiert ist oder nicht. Vielleicht spricht sogar viel dafür, aber nicht in dem Maße, dass wir eine Verurteilung rechtfertigen können. Diesen Unterschied machen diese Begrifflichkeiten deutlich.

Für Juristen macht diese Unterscheidung also keinen Unterschied?

Das darf es gar nicht. Freispruch ist Freispruch.

Was würden Sie am deutschen Sexualstrafrecht ändern, wenn Sie die Macht dazu hätten?

Erst einmal muss ich sagen, dass sich das deutsche Sexualstrafrecht in den letzten Jahren schon erheblich gewandelt hat. Viele Lücken, die es vorher gab, wurden geschlossen. Was mir trotzdem noch am Herzen liegt, ist vor allem, die Rolle der Opfer, auch im Verfahren, zu stärken. Das hat auch Konsequenzen auf der Sanktionsebene. Zum Beispiel finde ich, dass viele Strafen im Bereich der Sexualdelikte noch sehr milde ausfallen. Hier müssen das Leid und die massiven Folgen für die Opfer bei der Strafzumessung stärker berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite müssen wir auch mehr tun, um das Leben der Opfer wieder zu erleichtern. Da gibt es zum Beispiel den sogenannten Täter-Opfer-Ausgleich, bei dem der Täter – wenn das Opfer es möchte– aktiv Wiedergutmachung leistet. Das wird überwiegend bei Bagatelldelikten wie Diebstahl oder bei kleinen Körperverletzungen gemacht, bei Sexualdelikten ist das noch tabuisiert..

Werden im deutschen Sexualstrafrecht weiterhin Schritte in die richtige Richtung gemacht?

Ich habe das Gefühl, dass gerade etwas in Bewegung ist, das weiter unterstützt werden sollte. Es entsteht eine zunehmende Sensibilität für die Tragweite von sexuellen Übergriffen. Immer mehr Richter und Richterinnen sehen, wie erheblich das Leid der Opfer tatsächlich ist, wie solche Taten das Beziehungsverhalten der Opfer für Jahre und Jahrzehnte prägen. Diese gesellschaftliche Diskussion, die wir in den letzten Jahren ganz intensiv hatten, kommt auch in den Gerichtssälen an. Dieser Prozess ist schwerfällig, denn Gerichte verhängen ihre Strafen meist nach recht festen Traditionen – das, was man schon immer gemacht hat, wird auch weiter gemacht. Aber genau diese festgefahrene Praxis wird im deutschen Sexualstrafrecht langsam aufgebrochen.

 

Das Gerichts-Drama Sie sagt. Er sagt. von Ferdinand von Schirach wird am Montag, 26. Februar, 20.15 Uhr im ZDF und ab Samstag, 17. Februar, in der ZDF Mediathek ausgestrahlt. Im Anschluss an die Ausstrahlung wird "Sie sagt. Er sagt. Die Dokumentation.“ gezeigt. Wie entsteht Wahrheit im Gerichtssaal? Die Dokumentation zum Fernsehfilm hinterfragt und spitzt zu: Wie entscheiden Richter im Gewissensdilemma – zum Beispiel, wenn es keine Zeugen gibt?

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