"Sag mir nichts": Je größer die Leidenschaft, desto schlimmer das Leid.
"Sag mir nichts" erzählt in selten gesehener Authentizität die Geschichte einer leidenschaftlichen Affäre unter Erwachsenen.
Alles fängt so harmlos an wie sonst nur was, Großstadtmenschen kennen das: Die U-Bahn ist voll, alles sitzt und steht dicht gedrängt zusammen, und man weiß nicht, wohin man den Blick richten soll. Man will ja niemanden anstarren, und wenn man es doch tut, möchte man nicht ertappt werden. Wahrscheinlich glotzen die meisten deshalb so angestrengt auf ihre Smartphones. Eigentlich schade. Denn ein einziger intensiver Augenblick könnte alles ändern. Die Frage ist: Will man das? Martin (Ronald Zehrfeld) will. Und Lena (Ursina Lardi) ist verlegen, aber auch geschmeichelt, als sie bemerkt, dass der fremde Mann seinen Blick einfach nicht von ihr abwendet. Er schaut der attraktiven Blondine viel zu lange ins Gesicht. Unverblümt, unverschämt. Und nun? Nimmt das Drama, das im Ersten zur besten Sendezeit wiederholt wird seinen Lauf.
Der Zuschauer als Voyeur
Der Zuschauer kann sich vom ersten Moment von "Sag mir nichts" (2017) nicht gegen die durchaus aufregende Rolle des Voyeurs wehren. Die Beiläufigkeit des Szenarios fasziniert, kribbelt, macht neugierig – und enttäuscht dann erst einmal. Denn dass Lena und Martin keine fünf Filmminuten später an einer schummrigen Straßenecke wie ausgehungerte Tiere übereinander herfallen, mutet nach einer postpubertären Männerfantasie an und ist natürlich total unrealistisch. Doch die Geschichte, die der vielfach ausgezeichnete Regisseur Andreas Kleinert nach einem Buch von Norbert Baumgarten dem unerhörten Urknall der Emotionen folgen lässt, bewegt sich im Folgenden so atemberaubend nah am wahren Leben, dass man es fast mit der Angst bekommt.
Wenn man ihm denn mal die Chance gibt, hat der Zufall wohl wirklich allerhand Macht in unserem Leben. Lena und Martin jedenfalls hat der Sturm der Liebe voll von der Seite erwischt, und schon drohen sie, aus der Bahn geschleudert zu werden. Sie beginnen sich heimlich Kurznachrichten zu schreiben, treffen sich, haben gierigen Sex, im Hotel, im Fahrstuhl, in irgendwelchen Kellern, überall – während es daheim auch noch dieses andere, "normale" Leben gibt, in dem beide nicht unglücklich sind.
"Sag mir nichts" ist nicht mehr als ein Liebesfilm
Lena ist die kreative Fotografin, Mutter und Ehefrau – der Gatte Bodo (Roeland Wiesnekker) ist fast schon zu viel Prachtkerl auf einmal. Martin, der aufstrebende Zeitungsredakteur, hat die perfekte junge Frau (Sarah Hostettler) längst gefunden – sie träumt davon, endlich ein Kind zu bekommen. Alles auf dem Weg, alles im Lot. Eigentlich. Dass "es" trotzdem passiert, ist schön, wahr und ziemlich unheimlich. Dieses ominöse Herzklopfen ist etwas Wunderbares, aber so ein Doppelleben, wie es hier mit messerscharfem Blick seziert wird, ist dann eben auch kein reines Vergnügen. Schritt für Schritt, Lüge für Lüge hinein ins große Glück. Oder doch ins Verderben?
"Sag mir nichts" ist nicht mehr als ein Liebesfilm, aber endlich mal ein richtiger. Denn hier geht es einfach nur um die Banalität des Lebens. Man sagt das ja immer so dahin, wenn es darum geht, den ganz normalen Wahnsinn zu beschreiben: eingefahrene Wege, langjährige Beziehungen, Jobfrust, Alltag. Aber ist das alles wirklich so banal, so wenig, so klein, langweilig, schlimm? Und tötet besagter Alltag zwangsläufig die Liebe? Oder bedeutet er nicht auch Vertrauen, Halt und Sicherheit? Und was ist überhaupt das Gegenteil davon? Solche Fragen lotet dieser kluge, mit viel glaubwürdiger Erotik aufgeladene Film aus. Die Antwortet lautet: Das Leben ist nie leicht. Es ist berauschend, es ist einzigartig, es ist anstrengend, es ist potenziell die Hölle, und, ja, es ist immer noch wahr: Sex ist eine Schlacht, Liebe ist Krieg, und am Ende heulen alle.
"Will man das?"
Andreas Kleinert hütet sich davor, eine Haltung einzunehmen, wo es keine eindeutige Sicht der Dinge geben kann. Sein Film zeigt nur mit Nachdruck, was jedem klar ist: Auch die aufregendsten Affären haben ihre komplizierten Momente und kleinen Erbärmlichkeiten. Und sie könnten irgendwann zu Ende gehen. "Bin ich das für dich", schreit Lena Martin irgendwann ins Gesicht, "so 'ne Fickgeschichte?" Die Antwort wird hier natürlich nicht verraten. Fakt ist zweifellos: Je größer die Leidenschaft, desto schlimmer das Leid.
Ursina Lardi spielt gerade diesen Part der Story umwerfend, geradezu preisverdächtig. Irgendwann schüttet sich Lena auf einer Party unter guten Freunden zu und tanzt sich zu The Prodigys "Breath" in eine rauschhafte Verzweiflung hinein – als könnte sie mit nacktem Wahnsinn der unausweichlichen Konfrontation entgehen ... "Psychosomatic addict, insane." Man ist erschüttert. Spätestens jetzt ist klar, wie existenziell wichtig die kleine Frage vom Anfang ist: "Will man das?"
Sag mir nichts – Mi. 30.08. – ARD: 20.15 Uhr
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH