Wiederholung im Ersten

"Tatort: Gefangen" – traumatische Ermittlungen in der Psychiatrie

10.07.2022, 08.12 Uhr
von Maximilian Haase

Der "Tatort" ist in der Sommerpause, die Zeit der Wiederholungen ist gekommen. In diesem Fall von 2020 wird Ballauf bei Ermittlungen in der Psychiatrie mit einem alten Trauma konfrontiert.

ARD
Tatort: Gefangen
Kriminalfilm • 10.07.2022 • 20:15 Uhr

Dass der Wahnsinn des Verbrechens und das Wahnsinnigwerden der Ermittler eng verwoben sind, buchstabierten bereits viele Krimiformate aus. Gerade im Kölner "Tatort" befand sich der Zuschauer immer nah am emotionalen Zustand der beiden Kommissare, oft inmitten ihrer Verzweiflung über die eigene Hilflosigkeit. Im 79. Fall von Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) erfuhr diese Nähe 2020 einen vorläufigen Höhepunkt. "Gefangen" lautet der Titel der Episode, und gefangen scheinen nicht nur die Patienten der psychiatrischen Klinik, in der ermittelt wird, gefangen scheint auch Ballauf in seinen eigenen Schuldgefühlen. Das Erste zeigt den "Tatort", den zur Erstausstrahlung rund 9,36 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer einschalteten, nun als Wiederholung.

"Du musst dich der Sache stellen, Max", redet seine Psychologin auf Ballauf ein. "Du kannst das nicht ewig mit dir rumtragen", meint Kollege Schenk. Die "Sache" – das ist jener gezielte und tödliche Schuss auf die Polizistin Melanie Sommer (Anna Brüggemann) im Finale der dramatischen "Tatort"-Folge "Kaputt", die im Juni 2019 Premiere feierte. Dass Ballauf die zur Täterin gewordene Kollegin erschoss, selbst wenn er damit das Leben einer anderen Frau rettete, lässt ihn nicht los. Die Therapie hilft dem sonst so resolut wirkenden Ermittler kaum, und – das Schlimmste – immer und überall erblickt er die Erschossene. Sie verfolgt Ballauf bis an den Beckenrand des Schwimmbads – und spricht in manchen Szenen gar: "So sieht man sich wieder." Das Trauma, es wiegt schwer.

Wohl noch nie bis dato sah man Ballauf so neben sich stehen, noch nie so abwesend. In vielen Momenten starrt der Kommissar einfach nur ins Leere, bisweilen liegt er regungslos da, ja, fast wie eine Leiche. Regisseurin Isa Prahl porträtiert ihn und sein traumatisches Erleben in fast intimen Aufnahmen, rückt ähnlich dicht an ihre Protagonisten heran wie in ihrem bemerkenswerten Film "1000 Arten Regen zu beschreiben". Das gilt auch für die anderen Charaktere des Krimis, in dem neben Ballaufs psychischen Problemen natürlich auch noch ein Verbrechen gelöst werden will. Dramaturgisch klug versetzt Drehbuchautor Christoph Wortberg die Ermittlungen in eine psychiatrische Klinik, deren Chefarzt ermordet wurde.

Der anerkannte Psychiater Professor Krüger wurde in seinem eigenen Wohnzimmer erschossen, den Mörder muss er selbst hereingelassen haben. Ballauf und Schenk ermitteln zunächst in seiner Klinik – und begeben sich mitten in die Abgründe der geschlossenen Abteilung, wo sie Krügers zwielichtig wirkende Stellvertreterin Dr. Maren Koch (Adina Vetter) über den Tod ihres Chefs informieren. Zugleich kommt Ballauf in Kontakt mit der Patientin Julia Frey (Frida-Lovisa Hamann), die ihm gegenüber behauptet, gegen ihren Willen eingesperrt zu sein. Ärztin Koch rechtfertigt die Maßnahme: Borderlinerin sei die Frau, samt schizophrener Psychose, ausgelöst durch eine ungewollte Schwangerschaft.

Viele überraschende Wendungen

Während die gleichermaßen verwirrt und wissend wirkende junge Frau Ballaufs eigenes Leid zu spüren scheint ("Sie haben Angst, die Kontrolle zu verlieren"), befindet sich ihr Kind in der Obhut ihrer Schwester (Franziska Junge), die das Baby einst in einem angeblichen Akt der Selbstlosigkeit zu sich nahm. Ihr Mann, ein von Andreas Döhler wie so oft fantastisch verkörperter Rechtsanwalt, erhielt von seinem Tennispartner Krüger wiederum das letzte Lebenszeichen des Opfers – eine SMS mit den Worten: "Ich kann nicht mehr".

Die Verwebungen zwischen dem Ermordeten und seiner Patientin sowie deren Schwester und Schwager erweisen sich als immer komplizierter – und als sie sich endlich aufzulösen scheinen und der Mord in Aufklärung begriffen ist, nimmt der "Tatort" abermals überaschende Wendungen.

Seine über allem schwebende Traurigkeit und seine in bisweilen unerträglicher Nähe gefilmten Bilder verleihen dem "Tatort: Gefangen" weniger den Anschein eines klassischen Krimis als eines psychologischen Dramas um Schuld und Hilflosigkeit. So halten sich die pointieren Dialoge des sonst recht kernigen Ermittler-Duos diesmal in Grenzen ("Ein Kind macht glücklich" – "Und jede Menge Probleme, einen Arsch voll Sorgen").

Ausgelotet werden zur Abwechslung die seelische Untiefen Ballaufs, der sonst immer eine pragmatische Lösung zur Hand hat. "Gefangen" ist er diesmal jedoch in seiner eigenen Psyche, sprachlos und wie ein Häufchen Elend. Zwar wäre der Kölner "Tatort" nicht der Kölner "Tatort", wenn der gebeutelte Ballauf seinem Schmerz nicht mit actionreichem Geballere am Schießstand Luft verschaffen würde. Doch diesmal weiß es das Abbild der erschossenen Kollegin besser: "So funktioniert das nicht. Ich bin schon tot."

Mittlerweile haben Ballauf und Schenk das 80. Episoden-Jubiläum längst überschritten. Mit "Spur des Blutes" soll in der zweiten Jahreshälfte 2022 bereits Folge Nummer 85 aus Köln im Ersten laufen; 2023 folgt dann der Kölner "Tatort: Schutzmaßnahmen". Aktuell stehen Behrendt und Bär außerdem für einen Krimi mit dem Arbeitstitel "Abbruchkante" vor der Kamera.

Tatort: Gefangen – So. 10.07. – ARD: 20.15 Uhr


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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