Obacht vor investigativen Obdachlosen! Eisner und Fellner wuchten durch ein griffig inszeniertes "Verschwörungsg'schichtl". Kriminaler Extremalpinismus zwischen ganz oben und ganz unten.
Zur Wiener "Notschlafstelle"? Bitte einmal die Wendeltreppe entlang! Und zwar abwärts. Das soziale Gefälle ist im Wiener "Tatort" mit dem wegweisenden Titel "Unten" nicht gerade subtil modelliert. Da hilft es auch wenig, wenn der Heimleiter eines Bettenlagers für Obdachlose respektstrotzend von "Klienten" spricht. Über 20.000, so erfährt man, wissen jährlich in der Donaumetropole keine andere Zuflucht. "Und es werden immer mehr."
Doch wo Verlierer sind, da sind auch Gewinner. Und für die klaffende Lücke dazwischen hat der liebe Gott (oder jemand vom ORF) die Sonderermittler Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) erschaffen. Die beiden kraxeln diesmal zwischen den oberen und den unteren Zehntausend soziale Höhenmeter herauf und herunter, dass es einem schwindelig wird. Auch weil für kakaodampfende Sandler-Romantik nur ganz am Rande Zeit ist (Buch: Thomas Christian Eichtinger, Samuel R. Schultschik).
Es ist eher schon so, dass auch dieses Wiener Gesellschaftsporträt eingerahmt ist in eine Weltwahrnehmung aus schreiender Ungerechtigkeit. Ein Obdachloser wird ermordet in einer Industrieruine aufgefunden. Der Mann, Gregor Aigner mit Namen, war ein ehemaliger Informant von Bibi und ein vormaliger Investigativjournalist, der anscheinend über seine Recherchen aus dem geordneten Leben gepoltert ist. Eine Riesen-Enthüllungsgeschichte über ein Bankhaus hatte er einst geschrieben, gedruckt wurde aber nur eine doppelseitige Anzeige desselben Geldinstituts. Wen wundert's, wenn die Hinterbliebenen so einen als "stur" und "jähzornig" beschreiben.
Dass Eisner, Fellner und ihr flauschiger Ego-Puffer Fredo Schimpf (Thomas Stipsits) kistenweise Psychopharmaka am Schlafplatz des Toten sicherstellen, eröffnet die Lesart Richtung Drogendelikt. Jedoch beharren sämtliche Kumpane aus dem Obdachlosenmilieu, dass jener Gregor Aigner schon wieder einer hoch geheimen Skandalgeschichte auf der Spur war, in der maskierte Männer, dunkle Kleintransporter und verschwundene Obdachlose jüngeren Alters vorkommen.
Immer entschlossener sieht man Eisner und Fellner zwischen den Welten hetzen: von der Landstreicher-Spelunke "Brasilien" zum aufgeräumten Büro des "Lebensraum"-Heimleiters (Michael Pink) und von dort weiter zur Privatklinik der Über-Chirurgin Dr. Steiner-Reeves (Jutta Fastian). Die kümmert sich nachgerade samariterhaft um eine junge Mutter und ihren Sohn, die das Dach über dem Kopf verloren haben.
Man muss kein Kenner der Wiener Wadlbeißer-Krimis sein, um zu riechen, was da alles faul ist. Dass das Ganze dennoch keine Sekunde redundant wirkt, liegt am gewohnt kantigen Humor sowie an der wohltemperierten Regie von Daniel Prochaska. Der "Tatort"-Debütant, offenbar nicht weniger talentiert als der renommierte Vater (Andreas Prochaska, "Das Boot", "Das finstere Tal"), lässt den Fall wunderbar luftig aufgehen wie einen Blätterteig im Ofen.
Zwar ist es wahr, dass "Verschwörunsg'schichtln", wie Eisner einmal verächtlich sagt, im wahren Leben aus guten Gründen in Verruf gekommen sind. Im ORF-"Tatort" sind und bleiben sie jedoch eine Bank.
Tatort: Unten – So. 20.12. – ARD: 20.15 Uhr