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"Kindesmissbrauch in Deutschland": Es passiert überall

von Andreas Schoettl

Die Zahlen sind erschütternd: Rund 40 Kinder sollen in Deutschland missbraucht werden. An jedem einzelnen Tag. Allein 2018 hat es mehr als 14.000 Anzeigen zu sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen gegeben. Dass diese enorme Anzahl an aktenkundigen Fällen allerdings bei Weitem nicht den gesamten Schrecken des Missbrauchs erfasst, wird im Dokumentarfilm "Dunkelfeld – Kindesmissbrauch in Deutschland" von Carsten Binsack schmerzhaft deutlich. Am Donnerstag, 13. Februar, 20.15 Uhr, sind seine umfangreichen Recherchen zu diesem sehr dunklen Kapitel bei ZDFinfo zu sehen. Der Film macht klar, dass nach wie vor die Tabuisierung dieser Form der Gewalt ein Teil des Problems ist.

Der 2016 für den Grimme-Preis nominierte Filmemacher Carsten Binsack hat den Titel seines Werkes sehr treffend gewählt. Zur Erklärung heißt es: Fälle, die an das Tageslicht kommen, nennen Experten das "Hellfeld". Die anderen gehörten zum titelgebenden "Dunkelfeld". Wie hoch die Anzahl dieser Fälle ist, weiß keiner. Es gibt allenfalls Spekulationen. Franziska Giffey, SPD-Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, etwa erklärt: "Wir gehen von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus." Etwas genauer wird Johannes-Wilhelm Rörig, der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung: "Wir haben es mit einem enorm großen Dunkelfeld zu tun. Expertinnen und Experten sagen, dass wir die angezeigten Fälle mit bis zu zehnmal nehmen müssen."

Zunächst sind es die bekannten und aufsehenerregenden Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern, die der Autor aufgreift. Unter anderem zeigt der Film, wie es zu den Missbrauchsfällen auf dem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lüdge, am Berliner Canisius-Kolleg oder an der Odenwaldschule in Hessen kommen konnte. Auch ehemalige Opfer kommen zu Wort. Adrian Koerfer beispielsweise beschreibt, welcher Tortur gerade die Jüngsten an der mittlerweile geschlossenen Odenwaldschule ausgesetzt waren. "Ich hatte keine Ahnung von Sexualität und war von daher auch nicht wissend, was ist Missbrauch und was ist Sex?", erzählt er. So habe einer der Täter, der 2010 verstorbene ehemalige Schulleiter Gerold Becker, systematisch versucht, an die Genitalien der Jungen ranzukommen. Im Film besucht Koerfer zusammen mit seiner Frau den Ort seiner schlimmen Vergangenheit. Sie ist zum ersten Mal dort, wo nun ein Wohn- und Ferienpark entstehen soll, und versteht das neue Konzept kaum. Die ehemaligen Gebäude der Odenwaldschule hält sie für "verseucht".

"Die Gefahr ist im familiären Umfeld"

Die berühmten wie berüchtigten Fälle in Lügde, an der Odenwaldschule oder am Canisius-Kolleg haben durchaus zu weiterer Aufklärung und auch einer Sensibilisierung etwa innerhalb der katholischen Kirche geführt. Die meisten und vor allem unentdeckten Fälle aber passieren innerhalb der Familien. Der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg M. Fegert zieht in dem Film einen weiten Bogen. Er sagt: "Ganz früher hat die Kriminalpolizei vor dem fremden Mann im Trenchcoat am Spielplatz gewarnt. Der ist eigentlich die geringste Gefahr. Die Gefahr ist im familiären Umfeld. Da ist immer noch am häufigsten sexueller Missbrauch. Durch Väter, Stiefväter, Verwandte. Also Personen, mit denen man das Kind ja überall mit hingehen lässt."

Renate Viehrich-Seger ist eines dieser Opfer. Im Film hat sie den Mut, Gesicht zu zeigen. Und sie spricht von ihren Erfahrungen innerhalb einer kinderreichen Familie der 1950er- und 1960er-Jahre. "Ab meinem elften Lebensjahr haben die Übergriffe durch meinen Vater begonnen. Ich weiß, dass mein Vater meine älteren Schwestern auch benutzt hat", sagt sie. Ankommen gegen die Übergriffe innerhalb einer angeblich so intakten deutschen Familie konnte sie damals nicht. Im Gegenteil! Die Taten ihres Vaters wurden im Sinne einer angeblichen "heilen Welt" sogar gedeckt. Viehrich-Seger: "Für mich persönlich war am allerschlimmsten, dass es meine Mutter gewusst hat."

Mit diesem Blick auch in eine weiter zurückliegende Vergangenheit erörtert Binsack auch die Frage, wie sich das Bewusstsein von sexuellem Missbrauch Minderjähriger in beiden Teilen Deutschlands seit Kriegsende verändert hat. Dass in den antiautoritären Kinderläden der 68er eine angebliche Sexualität von Kindern sogar gerechtfertigt gewesen sein soll, bleibt ein sehr fragwürdiges Kapitel. Nochmals ganz anders war der Umgang in der ehemaligen DDR mit dem Thema. "Im Westen gab es den ein oder anderen Skandal, der an die Öffentlichkeit gekommen ist. Das gab es in der DDR nicht. Das heißt, es war ein komplett bewusst zugeschwiegener Bereich", blickt der Politikwissenschaftler und Historiker, Christian Sachse, zurück.

In der Familie, in der Kirche, in der Schule, im Sportverein ... – Es passiert überall. "Das Grauen lauert an Orten, die eigentlich Schutz versprechen", heißt es in dem Film. Binsacks umfangreiche Recherchen geben einen intensiven Einblick in das titelgebende "Dunkelfeld" des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen. Viele der Aussagen von Opfern erschüttern. Doch immerhin: Es gibt längst auch Reaktionen und Anstrengungen, etwas zu verbessern.

Experten der Berliner Charité kümmern sich innerhalb des Präventionsprojekts "Kein Täter werden" um Betroffene mit womöglich pädophilen Neigungen. Da sind auch Vereine, wie der Turnverein HSV Weimar, der als Reaktion auf die verurteilten Missbrauchsvorfälle eines ehemaligen Trainers seine Abläufe drastisch umstellt. Der Fall hat den Verein verändert. So gibt es hier keine männlichen Trainer mehr, die junge Turnerinnen ausbilden. Anstatt selbst ungewollt und ungefragt Hand anzulegen, sichern die Übungsleiterinnen ihre jungen Schützlinge nunmehr mit Seilen. Die HSV-Trainerin Saskia Ghandour fasst darüber zusammen: "Ich fasse kein Kind an, wenn das Kind sagt, ich will das nicht Ich umarme das Kind nicht, wenn es nicht selbst auf mich zukommt. Ich gehe nicht in die Umkleidekabine, wenn sich die Kinder umziehen."


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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