Emma Stone empfiehlt sich für zweiten Oscar

Frankenstein trifft „Barbie“ – Kritik zur grotesken Fantasy-Komödie „Poor Things“ mit Emma Stone und Willem Dafoe

17.01.2024, 10.32 Uhr
von Gregor-José Moser
In "Poor Things" beweist Emma Stone ein weiteres Mal, dass sie zu den begabtesten Darstellern Hollywoods gehört.
In "Poor Things" beweist Emma Stone ein weiteres Mal, dass sie zu den begabtesten Darstellern Hollywoods gehört.  Fotoquelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Bei den Golden Globe Awards triumphierte Emma Stone in der Kategorie Beste Hauptdarstellerin – Musical/Komödie für ihre Rolle in „Poor Things“. Warum sie auch noch ihren zweiten Oscar verdient hätte, erfahrt ihr in dieser Filmkritik.

Ein düsterer, blau-schwarz-bewölkter Himmel bedeckt den gesamten Horizont, während unheilvoll klingender Gesang ertönt. Vor dieser Mauer aus Wolken steht mit dem Rücken zu uns eine junge Frau mit schwarzem Haar und einem blauen Kleid, das ein wenig heller ist als das bedrohlich aussehende Firmament. Bedächtig fährt die Kamera heraus – wir erkennen, dass die Frau auf einer Brücke steht und auf die in der Tiefe rauschenden Fluten blickt.

So haben wir Emma Stone noch nie gesehen

Bereits diese erste Szene aus „Poor Things“ zieht seine Zuschauer magisch in den Bann. Was auf den atmosphärischen Einstieg folgt, ist eine herrlich schräge und bizarre Frankenstein-trifft Barbie-Geschichte. Die junge Frau heißt Bella Baxter (Emma Stone). Zumindest ist das jetzt ihr Name. Nach ihrem Tod. An ihr altes Leben hat sie keinerlei Erinnerungen mehr. Von den Toten zurückgeholt hat sie der sonderbare Wissenschaftler Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe). Bella steht damit noch einmal ganz am Anfang ihrer kognitiven Entwicklung. Schauspielerin Emma Stone muss in ihrer Rolle längst vergessene Saiten aufziehen und sich auf ihre Kindheitstage zurückbesinnen.

Mit den wankenden Schritten eines Menschen, der eben erst gelernt hat zu laufen, bewegt sich Bella unsicher, aber doch voller Neugier durch das große Haus des Wissenschaftlers. Sie hat trotzige Wutausbrüche, in denen sie mit Essen um sich wirft, und klatscht unbeholfen, wenn ihr etwas gefällt. Auch beim Sprechen steht sie noch so ziemlich am Anfang und brabbelt zusammenhangslos vor sich hin. Emma Stone beweist hier endgültig, was für eine talentierte und vor allem vielseitige Darstellerin sie ist.

Freie Sicht auf die Welt

„Poor Things“ basiert auf dem gleichnamigen und mehrfach ausgezeichneten Roman von Alasdair Gray aus dem Jahr 1992. Mehr als drei Jahrzehnte später nehmen sich Drehbuchautor Tony McNamara und Ausnahme-Regisseur Giorgos Lanthimos des Stoffes an. Mit beiden hat Emma Stone unter anderem schon in „The Favourite“ (2018) zusammengearbeitet. Im Kern erzählt „Pour Things“ von einer jungen Frau, die frei von gesellschaftlichen Konventionen die Welt entdeckt. Im Zuge dessen beginnt sie, diese immer mehr hinterfragen. So wie ein Kind will auch Bella alles über das Leben wissen, was es zu wissen gibt. Manches leuchtet ihr ein, anderes so gar nicht. Etwa warum sie gewisse Dinge am Esstisch nicht machen darf.

Neugier und der Hunger auf Erfahrungen treiben sie an. Als sie auf den zwielichtigen, aber charmanten Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) trifft, brechen die beiden zu einer Weltreise auf – gegen den Willen ihres Ziehvaters Dr. Godwin Baxter und Bellas Verlobten. Die junge Frau ist entzückt von all den Vergnügungen, die das Leben zu bieten hat. Unterwegs lernt sie zahlreiche Menschen und Sichtweisen kennen, kommt in Kontakt mit philosophischen und feministischen Ideen. Und sie sieht sich mit den Schattenseiten der Gesellschaft konfrontiert – mit Armut, Ausbeutung und anderen Ungerechtigkeiten. All das erlebt sie, im Prinzip, zum ersten Mal.

Pure Kunst trifft auf Female Empowerment

„Poor Things“ kombiniert diese Story mit einem ganz eigenen, aber umwerfenden Look. Würde man den Film an einer beliebigen Stelle pausieren, hätte man fast immer ein Standbild vor Augen, das es wert wäre auf eine Leinwand gebannt zu werden. Das gilt vor allem für die bildgewaltigen und farbenfrohen Panoramen, die mitunter an Aquarellmalerei erinnern. Das Steampunk-Setting, in dem das England des 19. Jahrhunderts auf futuristische Elemente trifft, rundet den einmaligen Look ab. Dankenswerterweise geben uns die vielen langen Einstellungen die Möglichkeit, für einen Moment innezuhalten und über das Set- und Bilddesign zu staunen. Die Kameraarbeit ist in „Poor Things“ auch darüber hinaus sehr auffällig gestaltet. So zoomt die Kamera häufig langsam in eine Szenerie hinein, ruht eine Weile auf einer Figur und fährt dann wieder zurück.

Nicht weniger speziell ist die schräge Filmmusik, die vor allem von Dissonanzen und ruckartig gespielten Streicherklängen geprägt ist. Es ist einfach zu jedem Augenblick spürbar, wie viel Kreativität in die Gestaltung des Films geflossen ist. „Poor Things“ ist damit nicht weniger als ein Kunstwerk. Und obendrauf haben seine Künstler auch etwas zu sagen. Die Protagonistin befreit sich von gesellschaftlichen Zwängen und bricht aus dem Patriarchat aus, um ihren eigenen Weg zu gehen. Das ist deshalb möglich, weil sie ihre gesellschaftliche Prägung ablegt. Das gewährt ihr einen klaren Blick auf gesellschaftliche Um- und Missstände, mit dem sie ihre eigenen Erfahrungen sammeln kann.

Ein Film für Neugierige

Es mag sich so lesen, als ob damit inhaltlich schon zu viel verraten wird. An der Stelle kann ich jedoch beruhigen. Bei „Poor Things“ kommt es nämlich mehr auf das wie an und weniger auf das was. Es geht um die Reise, die wir zusammen mit Bella antreten. „Poor Things“ ist ein Erlebnis, das allerdings nicht jeden Geschmack treffen wird. Gewisse Aspekte der Story können fast schon verstören – etwa bei den Themen Sexualität und Kindlichkeit. Auch Musik und Look dürften nicht allen zusagen. Wer jedoch mal wieder einen Film abseits des dominierenden Franchise-Kinos sehen will, sollte sich „Poor Things“ nicht entgehen lassen. Ob Emma Stone für diesen grandiosen Auftritt ihren zweiten Oscar nach „La La Land“ (2016) einheimst, werden wir im März erfahren.

„Poor Things“ läuft ab dem 18. Januar 2024 in den deutschen Kinos.

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