Erster Fall der neuen Kommissarin

"Polizeiruf 110: Little Boxes": Johanna Wokalek und die Irren von der Uni

17.09.2023, 09.05 Uhr
von Eric Leimann

Johanna Wokalek hat frisch die Ermittlungen von Verena Altenberger übernommen. Für ihren ersten Fall geht es ins Uni-Milieu. Nach dem Tod eines Dozenten trifft die Kommissarin dort auf radikale Meinungen zu Sexismus, Rassismus – und zur Polizei.

ARD
Polizeiruf 110: Little Boxes
Kriminalfilm • 17.09.2023 • 20:15 Uhr

Es hat Tradition, dass man sich beim Bayerischen "Polizeiruf 110" was traut. Das war schon so mit den ungewöhnlichen Ermittlern Jürgen Tauber (Edgar Selge) und Jo Obermaier (Michaela May) bis 2009, den ambitionierten Filmen mit Hanns von Meuffels (Matthias Brandt bis 2018 und zuletzt bei der leider nur sechs Filme hinterlassenden Verena Altenberger als Münchner Empathie-Ermittlerin Bessie Eyckhoff. Nun also folgt also die exzellente Schauspielerin Johanna Wokalek. Weiterhin mit dabei ist Stephan Zinner, der seit 2021 in der Rolle des bodenständigen Kollegen Dennis Eden zu sehen ist. Wokaleks erster Fall, der "Polizeiruf 110: Little Boxes", ist aber auch abseits des Ermittlerinnen-Wechsels ein Wagnis an sich – und das aus mehreren Gründen.

Wer könnte ihn "gerichtet" haben?

Der Film ist eher eine scharfzüngige, sprachlich komplexe Gesellschaftssatire als ein Krimi. Und er spielt in einer Szene, mit der nicht zu spaßen ist. Aufs Korn genommen werden die "superwoken" akademischen Kreise jener "Forscher-Personen", die sich mit Sexismus, Rassismus und postkolonialistischen Studien auseinandersetzen. Menschen, bei denen man mit falschem Auftreten oder unbedachten Worten schneller ins Fettnäpfchen getreten ist, als man seinen Satz zu Ende bringen kann. Und dass die sich angesprochen fühlenden Kreise diesen Film lustig finden, darauf kann man nicht unbedingt setzen. Jedenfalls dann nicht, wenn sie auch nur ein bisschen so drauf sind, wie das Personal in diesem Film.

Doch der Reihe nach: Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts wird tot aufgefunden. Auf seinen nackten Rücken hat jemand "Rapist", also Vergewaltiger, geschrieben. Die Ermittlungen führt die nach einem Auslandseinsatz nach München zurückgekommende Cris Blohm (Wokalek), die von ihrem alten Freund Dennis Eden und Kommissar Otto Ikwuakwu (Bless Amada) unterstützt wird. Viele auf dem Campus wissen, dass dem Mordopfer der Vorwurf des Vergewaltigers nachhing. Doch wer könnte ihn "gerichtet" haben?

Die Polizisten, denen man im Unibetrieb kritisch bis feindlich gegenübersteht, bekommen während ihrer Ermittlungen Gegenwind ohne Ende. Ob es nun die Sitzblockaden der Studentinnen und Studenten sind, die Blohm und Co. den Weg zu ihren Befragungen dichtmachen oder bretthart argumentierende Dozentinnen wie Defne Sahinkaya (Canan Samadi) oder Kim Hallstein (Lise Risom Olsen). Die Polizei ermittelt am "Institut für Postcolonial Studies" nicht als Freund und Helfer, sondern als klar definierter Feind.

Doppelbödig, scharfzüngig und intellektuell fordernd

Der Münchner Drehbuchautor Stefan Weigl ("Zeit der Kannibalen") trifft es ganz gut, wenn er erzählt, welches Feedback er auf ein Drehbuch wie dieses normalerweise hätte erwarten können: "Es gibt zwei Sätze, vor denen Autoren am meisten Angst haben. Nummer 1: Ich versteh das ja, aber ob unsere Zuschauer schon so weit sind? Und Nummer 2: Wir müssen aufpassen, dass wir keinen Beifall aus der falschen Ecke bekommen." Tatsächlich ist es mutig, was der Bayerische Rundfunk den Zuschauerinnen und Zuschauern mit dieser Gesellschaftssatire zum Einstieg der neuen Ermittlerin zumutet: Gefühlt 80 Prozent der Dialoge sind extrem doppelbödig, scharfzüngig und intellektuell fordernd – sofern man die Sprache und Debatten "der Szene" nicht kennt.

Darüber hinaus spielt der Film (Regie: Dror Zahavi) auch mit den Ermittlerfiguren auf eine ungewöhnliche Art und Weise – nicht alle Zuschauer werden dem süffisanten Identitäten-Spiel rund um Gender, Migrationshintergrund und Co. folgen. Wer hier nicht jeden Satz konzentriert verfolgt, wird schnell abgehängt in Sachen Humor. Da ist es doch immerhin schön, dass zwei wunderbare Tanzeinlagen auf dem Kommissariat – beide mit Michael-Jackson-Bezug – die ansonsten doch sehr wortlastige Stimmung auffrischen.

Die Verantwortlichen machen es sich mit dem ambitionierten Denk- und Humorstück "Polizeiruf 110: Little Boxes" nicht einfach. Einige Dialoge und Szenen sind wirklich gut, ja exzellent – doch die 90 Minuten des "Krimis" sind auch manchmal harte Arbeit. Es könnte sein, dass im Laufe des ersten Wokalek-"Polizeirufs" ein guter Teil des ARD-Sonntagabend-Publikums einfach aussteigt oder zumindest wütend schimpfend die 21.45 Uhr-Marke erreicht. Vielleicht ist diese Reaktion sogar gewollt. Ob selbiges Klientel dann allerdings 2024 dem Ganzen mit dem zweiten Fall "Funkensommer" (Buch und Regie: Alexander Adolph), in dem es um einen Brandfall mit Leiche geht, noch eine weitere Chance gibt, bleibt abzuwarten.

Polizeiruf 110: Little Boxes – So. 17.09. – ARD: 20.15 Uhr


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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