Schon wieder ein "Tatort", der aus der Art schlägt: "Waldlust" bricht mit so ziemlich allen Sehgewohnheiten am Sonntagabend.
In Fachkreisen wird immer noch gestritten: War "Babbeldasch" nun ein genialer Beitrag zur Renommee-Reihe der ARD oder doch der "schlechteste 'Tatort' aller Zeiten", wie Kritiker und enttäuschte Fans wüteten? Fakt ist: Der experimentelle Streifen fuhr vor einem Jahr mit nur 6,35 Millionen Zuschauern eine für "Tatort"-Verhältnisse verheerende Quote ein. Er habe noch nie einen Film gedreht, der derart polarisiert hat, staunte im Nachhinein der junge Regisseur Axel Ranisch, der nach einem Drehbuch von Sönke Andresen Laientheaterflair in den "Tatort" mixte und dafür wüst beschimpft wurde. Mit "Waldlust" treibt das Kreativduo zum zweiten Mal sein Unwesen mit dem SWR-"Tatort", und zum Glück übten sich die Macher auch diesmal nicht in Demut.
Zwar ist das Ganze wieder nicht das, was sich konservative Krimifreunde von einem "echten 'Tatort" erwarten, aber diesmal funktioniert das Konzept, weitgehend auf Drehbuchdialoge zu verzichten – weil die Geschichte packend ist und die Macher so kunstfertig über die Stränge schlagen, wie man das im "Tatort" allenfalls von den Murot-Krimis kennt. Ranisch und Andresen schicken das Ludwigshafener Team zum Offsite in ein abgelegenes Hotel, wo die Ermittler von einem Fall überrascht werden: Der lange vertuschte Hintergrund eines Mordes harrt der Aufklärung.
Also dann: Anschnallen und festhalten! Die Geschichte beginnt mit einer Autotour, und in den folgenden 90 "Tatort"-Minuten wird man durchgeschüttelt wie lange nicht am Sonntagabend auf der Krimi-Couch. Für Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) geht es im ersten Fall ohne den ausgeschiedenen Kopper (Andreas Hoppe) zum Coachingwochenende tief ins Nirgendwo des verschneiten Schwarzwaldes.
Dort steht eine Teambuilding-Maßnahme auf der Agenda – mit von der Partie sind Gerichtsmediziner Peter Becker (Peter Espeloer), Kommissarin Johanna Stern (Lisa Bitter) und Frau Keller (Annalena Schmidt), die gute Seele der Mordkommission. Als Psychologe sitzt Simon Fröhlich (Peter Trabner) mit im muckeligen Mini Van, wo in hibbeliger Euphorie allen Ernstes "Wochenend und Sonnenschein" angestimmt wird. Doch was als fröhliche Landpartie beginnt, entpuppt sich als Albtraum, dessen Ouvertüre alsbald im schönsten Pfälzer Idiom über den Äther kommt: "Des Inderned funktionierd ned!" Kein Netz, das Navi versagt – und der Launepegel der illustren Truppe sackt merklich ab.
Man irrlichtert durch die Einöde, wenngleich der Weg mithilfe des zufällig auf den Plan tretenden lokalen Polizistenpaares Brunner (Juergen Maurer, Christina Grosse) bald gefunden ist und sich die dräuende Katastrophe erst mal nur in gastronomischer Hinsicht offenbart: Das Tagungshotel "Lorenzhof" ist ein Reinfall erster Güte: ein renovierungsbedürftiger Kasten, mit fragwürdigem Konzept und einem vierschrötigen Gastgeber, an dem sich die Rachs und Rosins dieser Welt die Zähne ausbeißen würden. Entsetzen macht sich breit. Ein echter Society-"Hoddschbodd" sei das Haus früher mal gewesen, versucht sich die Kripo-Assistentin Keller noch an einer Beschwichtigung, doch da begrüßt ebenjener Wirt namens Humpe (Heiko Pinkowski) die Gäste schon wutschnaubend mit der Mistgabel in der Hand. Wobei seine Aggression vor allem auf die beiden Provinzcops zielt, die auffällig schnell das Weite suchen ...
Derweil ein Schneesturm aufzieht und im Hintergrund ein Soundtrack wie aus einem Italowestern donnert, richten sich Lena und Co. notgedrungen ein im Lorenzhof, wo diverse Abgründe auf sie warten – und Skurrilitäten wie ein an den Fall Kampusch erinnerndes Kellerverlies, ein Menschenknochen im Gemüseeintopf oder der Auftritt der hochbetagten 30er-Jahre-Diva Lilo Viardot (Ruth Bickelhaupt), die plötzlich in feinster Abendrobe zum Dinner erscheint. Das alles kommt nicht nur dem Zuschauer, sondern auch den kopfschüttelnden Protagonisten surreal vor. Aber: "Doch! Des is die Viardot", weiß die Keller staunend festzustellen. Nur: Was soll das? Wo ist hier der Fall? Warum landete die "Tatort"-Crew ausgerechnet in diesem schlechten Witz von einer Tagungsstätte?
Der Zuschauer erfährt es in kleinen Dosen über eine Rahmenhandlung, die über eine zweite Zeitebene eingezogen wurde: Der ungemütliche Ausflug liegt ein paar Wochen zurück, in der Jetztzeit sitzt Humpe im Verhörraum und gibt scheibchenweise Zusammenhänge preis: Es geht um einen 30 Jahre alten Fall. Humpe saß wegen des Mordes im Knast, seine Existenz ist zerstört. Geblieben ist dem Gebrochenen nur die psychisch auffällige Nichte Doro (Eva Bay), die mit auf dem Lorenzhof lebt ...
Dem Zuschauer wird ein verwegenes Pfälzer Dreierlei serviert: Was im Horror-Hotel vor sich geht, das erzählt Axel Ranisch als hyperrealistisches Kammerspiel, in dem sein Ensemble im improvisatorischen Stil einer Dokusoap agiert; die Szenen, die sich in der Waldkulisse außerhalb des Hotels abspielen, gemahnen ans Gruselkino; nur die Verhörsequenzen sehen nach TV-Krimi aus. Verrückt! Aber das wirklich irre ist: So unerhört und sperrig das Ganze auch aufgezogen scheint, die Story entfaltet eine Sogwirkung, der man sich kaum entziehen kann. Alles total drüber, doch die Show hat ihren Reiz.
Dieser nackte Wahnsinn von einem Krimi, der im Akkord mit Sehgewohnheiten bricht, wird als weitere Absonderlichkeit in die "Tatort"-Geschichte eingehen. Wegen seiner Machart, seinen brachialen Figuren und auch wegen seiner Musik: Komponistin Martina Eisenreich schrieb eine "Tatort'-Symphonie", die von der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz eingespielt wurde. "Deutsche Fernsehunterhaltung muss mutig sein dürfen, auch auf die Gefahr hin, den Geschmack des Publikums zu verfehlen, sonst schlafen wir alle ein!" – So ließ sich Axel Ranisch unlängst zitieren. Ein Wahnsinnstyp. Ob er jetzt den verdienten Applaus bekommt?