"Dahmer", "Candy" und Co.

True Crime: Ist der Hype um Mörder noch moralisch vertretbar?

21.11.2022, 14.31 Uhr
von Franziska Wenzlick

True-Crime-Formate üben offenbar eine hohe Faszination aus, seit Jahren boomt das Genre. Die Netflix-Erfolgsserie "Dahmer" bekommt nun zwei weitere Staffeln. Geschmacklos, meinen Kritiker. 

Wir sind besessen von Monstern. Anders lässt es sich nicht erklären, dass Netflix vor wenigen Tagen ankündigte, die Erfolgsserie "Dahmer" nicht nur um eine, sondern um mindestens zwei Staffeln zu verlängern. Klar, das drastische Schauermärchen rund um den Serienmörder Jeffrey Dahmer brach seit seinem Start Ende September nahezu alle Rekorde des Streamingdienstes. Aber: Bei "Dahmer" handelt es sich eben nicht um ein bloßes Schauermärchen. Nein, der "American Horror Story"-Meisterschocker Ryan Murphy setzt in seinem Netflix-Original auf etwas weitaus Furchteinflößenderes: die Realität.

So kann man vom Sofa aus zusehen, wie Evan Peters als Jeffrey Dahmer Knochen zersägt, seine Opfer mit einer Bohrmaschine zu gefügigen "Zombies" machen will und einen 14-jährigen Jungen mithilfe der Polizei wieder in seine Wohnung schleppt, nachdem dieser seinen mörderischen Fängen entkommen ist. Peters, ein begnadeter Schauspieler, erklärte jüngst in einem Interview mit dem US-Branchenblatt "Variety", zur Vorbereitung auf die Rolle vier Monate lang Gewichte an den Armen getragen zu haben, um diese wie Dahmer kaum zu bewegen. Auch sonst scheute der 35-Jährige keine Mühen, um dem Killer zu ähneln; er trug Einlagen in den Schuhen, rauchte Kette und lernte, Dahmers Art zu sprechen bis ins Detail zu kopieren. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Vergleicht man Peters' Darbietung mit Aufnahmen von Dahmer, ist die Ähnlichkeit – gelinde gesagt – frappierend.

Mitleid mit Dahmer in den sozialen Medien

Umso bedenklicher, dass in den vergangenen Wochen mit den Aufrufzahlen bei Netflix auch die Zahl der TikTok- und Twitter-Accounts stieg, die sich weniger für die Performance des Hauptdarstellers zu interessieren scheinen, als für die Person, die Evan Peters so beeindruckend imitiert: Jeffrey Dahmer. Der Mann, der zwischen 1978 und 1991 mindestens 16 junge Männer und Jugendliche brutal tötete. Der Mann, der seine Opfer misshandelte, zerstückelte und zum Teil auch aß. Der Mann, der wohl getrost als einer der grausamsten Serienmörder des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden kann.

Dahmer, so heißt es in einem Beitrag eines Twitter-Users, habe schlichtweg "nicht allein sein wollen" und "es nicht böse gemeint". Ein anderer Nutzer ist der Ansicht, Dahmer sei grundsätzlich "ein guter Junge" gewesen. In den sozialen Medien finden sich Hunderte derartiger Posts.

Das Phänomen ist nicht neu: Hybristophilie, auch Bonnie-und-Clyde-Syndrom genannt, bezeichnet ein Krankheitsbild, bei dem Betroffene sich sexuell zu Kriminellen – vorrangig Mördern und Vergewaltigern – hingezogen fühlen. Hybristophilie existierte schon lange, bevor Evan Peters zu "Dahmer" wurde und Menschen jede noch so absurde Neigung im Internet verlautbaren konnten. Nicht ohne Grund wurden Serientäter wie Dahmer und Ted Bundy schon zu Lebzeiten im Gefängnis mit Liebesbriefen überhäuft.

Zugegeben, die obsessive Verehrung von Straftätern stellt mit Sicherheit kein gesamtgesellschaftliches Problem dar. Gleichermaßen lässt sich eine gewisse Massen-Fixierung auf reale Gewaltverbrechen kaum noch leugnen. "True Crime" hat sich in den vergangenen Jahren als feste Instanz auf allen Kanälen etabliert: In den deutschen Podcast-Charts tummeln sich Sendungen mit Titeln wie "ZEIT Verbrechen", "MORD AUF EX" und "Mordlust" unter den Spitzenplätzen, während Streamingdienste mit Serien wie "The Watcher" (Netflix"), "Candy" (Disney+) oder "The Staircase" (WOW) um die Gunst der True-Crime-begeisterten Zuschauerschaft buhlen. Auch im öffentlich-rechtlichen Programm sind non-fiktionale Krimi-Formate (beispielsweise die Reihe "ARD Crime Time" im Ersten) seit einiger Zeit hoch im Kurs. Der andauernde Quotenerfolg von "Aktenzeichen XY ... ungelöst" im ZDF spricht Bände.

Echte Verbrechen mit echten Opfern als Unterhaltung

Sind wir also doch alle hybristophil? Wohl kaum. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage, worin der Ursprung dieser kollektiven Faszination für Mörder und – seltener – auch ihre Opfer liegt. Ergötzen sich True-Crime-Fans am Leid anderer? Wollen sie einfach nur lernen, sich selbst vor potenziellen Angreifern zu schützen? Oder sind fiktive Monster schlichtweg nicht mehr gruselig genug? Was auch immer der Grund für die Anziehungskraft des Genres sein mag – moralisch einwandfrei ist True Crime in seiner Gänze wohl kaum. Zu reißerisch, zu provokant, zu respektlos den Opfern gegenüber sind schließlich viele der Formate, die uns ganz nebenbei beim Einschlafen, auf dem Weg in die Arbeit oder beim gemütlichen Fernsehabend unterhalten.

Natürlich sind nicht alle Serien, Dokus oder Podcasts, die sich mit wahren Verbrechen befassen, der bloßen Sensationsgier geschuldet. Auch vor einem Anstieg an Gewaltverbrechen muss sich niemand fürchten – denn Nachahmungstäter scheinen True-Crime-Formate nicht zu produzieren. Wie die Kriminalpsychologin Lydia Benecke 2021 in einem Interview mit der Agentur teleschau erklärte, sei "nicht auszugehen" davon, dass die mediale Präsenz von Verbrechern auch andere Täter auf den Plan rufe. "In der Gewaltforschung ist das Fernsehen kein relevanter Faktor mehr, es gibt keinen messbaren Zusammenhang", so die 40-Jährige. Vielmehr sei Benecke, selbst unter anderem Expertin der funk-Reihe "Der Fall", optimistisch, "dass die Botschaft der Formate in aller Regel heißt, dass man etwas unternehmen kann gegen das Verbrechen – und sicher nicht, dass sich das Verbrechen lohnt".

Und trotzdem: Einen faden Beigeschmack hinterlassen gewisse Produktionen allemal. So müssen sich beispielsweise die Schöpfer von Netflix' jüngstem Goldesel zu Recht fragen lassen, ob mit "Dahmer" nicht die ein oder andere Grenze überschritten wurde. Zur Erinnerung: Jeffrey Dahmer tötete sein letztes Opfer vor rund 31 Jahren, im Juli 1991. Viele Angehörige der ermordeten Männer und Jugendlichen sind nach wie vor am Leben – und müssen nun mitansehen, wie der Mörder ihres Sohns, Bruders, Freundes oder Cousins zur Netflix-Ikone – und zuletzt auch vielerorts zum kultigen Halloween-Kostüm – avancierte.

Zwischen Aufklärung und Effekthascherei

"Es war, als würde ich alles noch einmal erleben", schreibt Rita Isbell, die Schwester des ermordeten Errol Lindsey, in einem Gastbeitrag bei "Insider". "Es brachte all die Emotionen zurück, die ich damals empfunden habe." Isbell zählt zu den zahlreichen Hinterbliebenen, die sich seit dem Start der Serie an die Öffentlichkeit gewandt haben – und darauf hinweisen, den Machern in keinster Weise ihr Einverständnis für die Verfilmung der damaligen Geschehnisse gegeben zu haben.

Netflix muss das nicht interessieren. Die Klickzahlen geben dem Streamingdienst recht. Dazu kommt, dass Dutzende Podcaster, Filme- und Serienmacher einen weitaus unsensibleren Umgang mit den Geschichten realer Mordopfer pflegen. Murphy beleuchtet in seinem Zehnteiler zumindest auch das Leid der Familien und das systematische Versagen der Polizei; eine Perspektive, die manch anderer Produktion gänzlich fehlt. Schade, liegt darin doch die Stärke des Genres: Missstände anprangern, zur Prävention beitragen, Bewusstsein schaffen – all das kann und sollte True Crime leisten. Wo Aufklärung aufhört und Effekthascherei anfängt, darüber muss sich jeder, der vom Leid anderer Menschen erzählen will, im Klaren sein. Wer die Grenze nicht kennt, sollte die Finger von dem Genre lassen.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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