Doku bei ARTE

"Olympia 72 – Deutschlands Aufbruch in die Moderne": Sommer der konkreten Utopie

01.09.2022, 08.17 Uhr
von Hans Czerny

Vor 50 Jahren richtete Deutschland zum bisher letzten Mal Olympische Spiele aus. Deutschland wollte sich von einer ganz neuen Seite zeigen. Eine Doku versucht sich mit einer Einbettung in die Zeitgeschichte.

ARTE
Olympia 72 – Deutschlands Aufbruch in die Moderne
Dokumentation • 01.09.2022 • 20:15 Uhr

"Mehr Demokratie wagen!" – Der Slogan von Willy Brandt könnte als Fazit über der etwas trocken geratenen Zeitgeschichtsbetrachtung des soziologisch ausgerichteten Dokumentaristen Louis Saul ("Rummelplatz Alpen") gestellt werden. Olympia 1972, so lässt er seine zahlreichen Kultur-, Sport- und sonstigen Historiker frontal in die Kamera sprechen, war so nur im Zeitfenster der 60er- und beginnenden 70er-Jahre möglich. Dabei rücken die 60er-Jahre zeitlich arg nah an den Nationalsozialismus heran. Es ist, als wäre das Kriegsende gerade vorüber gewesen und die Welt hielte Deutschland noch immer für ein von Nazis besetztes Land.

Umso überschwänglicher lässt sie sich loben, die neue Zeit des Wirtschaftswunders und der Freiheitsliebe, die natürlich keineswegs so groß war wie hier behauptet. Was München, die "Weltstadt mit Herz" im Aufbruch, betrifft, stimmt die Richtung weit eher, auch wenn dabei die Protagonisten, Münchens OB Hans-Jochen Vogel und NOK-Chef Willi Daume, auch nach 50 Jahren allzu überschwänglich gelobt und mit Superlativen bedacht werden. Wohltuend jedenfalls Vogels Mahnungm nach der Rückkehr vom Zuspruch in Rom 1966, man möge dafür sorgen, "dass München in den kommenden Jahren und auch nach Olympia München bleibt".

Historiker und Soziologen geben sich im ARTE-Film alle Mühe, um uns vom Nutzen der Spiele bis heute zu überzeugen. Schon gut, die Infrastruktur Münchens hat von den Spielen gezehrt. Ein neues U-Bahn-Netz, inzwischen fragwürdig gewordene neue Stadtautobahnen wurden gebaut und vielleicht haben ja auch die Olympiabauten den Wohnungsbau ein wenig entzerrt. Ob das Olympische Dorf, lange leerstehend nach 1972, wirklich als Vorbild für städtisches Zusammenleben schlechthin dienen kann, sei dahingestellt. Nicht zuletzt kommt auch das Attentat auf die israelische Mannschaft mit elf toten Sportlern inmitten der Hymne ein wenig kurz. Dass es so nahe am Gedenken, 50 Jahre danach, noch immer um eine gebührende Entschädigung für die Hinterbliebenen geht, mag dem Produktionstermin geschuldet sein.

So aber ist's wie mit den Spielen selbst, die nach kurzer Pause und einer Trauerfeier einfach weitergingen. Alles erfüllte seinen Zweck – noch die Appartments im Frauendorf können als Vorbild für "tiny houses" gelten, und selbst die Abriss-Proteste schufen eine neue Protestkultur im Land. Würde nicht Münchens derzeitiger OB Dieter Reiter betonen: "Es bleibt ein Schatten" weil durch das Attentat die Erinnerung "deutlich eingetrübt" sei – man könnte meinen, dass das Tor zum Himmel geöffnet sei.

Gefeiert wird ein "Sommer der konkreten Utopie". Zuvor war alles alt, jetzt war es neu. Angesichts dieser Superlative lobt man sich doch die Welt im Kleinen. Der Holzdackel Waldi, das Maskottchen von 1972, sagt vielleicht doch mehr über die damalige Stimmung aus als die übergestülpte Weltoffenheit. In der Nahaufnahme "Meine Spiele – Olympia 1972 in München" ist übrigens neben Waldi auch Timm Ullrichs Spielstraßen-Hamsterrad zu sehen, als Kritik an der "olympischen Tretmühle" gedacht. Etwas mehr Eigenwilligkeit hätte man sich auch von der ARTE-Olympiafeier gewünscht.

Olympia 72 – Deutschlands Aufbruch in die Moderne – Do. 01.09. – ARTE: 20.15 Uhr


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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