Ein neunjähriger Junge wurde an einer Grundschule die Treppe hinuntergestoßen. Während die beiden Ermittlerinnen schockiert sind, scheint bei vielen an der Schule Erleichterung zu herrschen.
Die Angst geht um an einer Grundschule in Ludwigshafen. Die Angst vor einem Grundschüler. Gleich in der ersten Szene des neuen "Tatorts" mit den Ermittlerinnen Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Johanna Stern (Lisa Bitter) sieht man einen Jungen mit entschlossenem Blick einen Schulhof und danach die langen Gänge der Lehranstalt durchstapfen. Kinder, Lehrer und Hausmeister reagieren mit offensichtlicher Besorgnis. Marlon (Lucas Herzog) hat heute beim Schulfest eigentlich Hausverbot, an das er sich nicht hält. Wenig später ist der Junge tot. Die Ermittlerinnen erfahren: Marlon war einer, an dem sich Pädagogen, Eltern und Kinder die Zähne ausbissen. Ein Kind, das seine unkontrollierbaren Gewaltausbrüche zum Außenseiter gemacht hatten. Jemand, der in seiner Klasse so gut wie keine Unterstützung fand. Ein Kind, das sich viele ganz weit weg wünschten.
Entsprechend umfangreich ist in "Tatort: Marlon" der Kreis jener Verdächtigen, die für einen handgreiflichen Streit mit Todesfolge infrage kommen. Mit zwei Kindern, Madita (Hanna Lazarakopoulos) und Pit (Finn Lehmann), hatte Marlon am meisten zu tun. Das Binnenverhältnis des Trios schwankte zwischen Freund- und Feindschaft. Entsprechend agieren die Eltern der kindlichen Zeugen oder Verdächtigen nicht wirklich neutral. Maditas Vater (Urs Jucker) berichtet, dass seine Tochter von Marlon gemobbt wurde. Auch der Hausmeister und die Lehrkräfte hatten es schwer mit dem Jungen aus anscheinend bürgerlichen Verhältnissen, dessen Eltern (Julischka Eichel, Markus Lerch) über die Jahre mit dem chronischen Problemkind mürbe geworden sind. "Wir hatten ja nicht mal eine Diagnose", erzählt Marlons resignierte Mutter den Ermittlerinnen.
Nur einer im Umfeld der Schule hatte einen weitgehend unbeschädigten Draht zu Marlon: Sozialarbeiter Anton Leu (Ludwig Trepte), ein hoch engagierter Idealist, wie man ihn sich in der Arbeit mit schwierigen Kindern wünscht, konnte Marlon so nehmen wie er war – und zeigt sich von dessen Tod schwer getroffen.
Mit jedem Gespräch wird klarer: Odenthal und Stern haben mit ihren Ermittlungen an der Schule eine harte Nuss zu knacken. Nicht nur, wegen der vielen Verdächtigen, sondern auch wegen einer an die Nieren gehenden Erkenntnis: Es gibt Kinder, die stressen ihr Umfeld so sehr, dass es sogar erleichtert auf dessen Tod reagiert.
Der "Tatort: Marlon" erinnert mehr als nur ein bisschen an das Thema des vielfach prämierten Kinomeisterwerks "Systemsprenger": Was tun mit einem Kind, das sämtliche ihm gebaute Brücken eines sozial verträglichen Verhaltens nach kürzester Zeit abbricht? Was tun, wenn weder Eltern, Lehrer noch andere Kinder an einen Neunjährigen herankommen, ohne immer wieder Schmerzen, Wut und Enttäuschung zu erleben. Wenn Eltern, Psychologen und Pädagogen nicht weiterwissen, macht sich notgedrungen Resignation breit.
Doch Resignation bei einem Neunjährigen, zumal aus der bürgerlichen deutschen Mitte: Darf das sein? In etwa so könnte man die von Drehbuchautorin Karlotta Ehrenberg ("Besuch für Emma") im "Tatort" gestellte Frage auf den Punkt bringen. Die beiden Kommissarinnen, eine kinderlos (Odenthal) und die andere geschiedene Mutter zweier Töchter (Stern), verknüpfen ihren Fall in dessen Ermittlungsverlauf mit eigenen Lebenserfahrungen. Odenthal erzählt ihrer Kollegin davon, dass sie selbst ein schwieriges Kind war. Stern gesteht Odenthal Momente krasser Überforderung als Mutter und wie sehr sie sich schon in ihrer Rolle als erziehende Erwachsene ihren Kindern gegenüber geschämt hat.
Vielleicht ist dieser von Regisseurin Isabel Braak ("Tatort: Rettung so nah", "Bonusfamilie") verantwortete SWR-"Tatort" hier und da ein wenig zu pädagogisch geraten. Manchmal sprechen die Figuren etwas zu explizit Dinge aus oder an. Dennoch verfängt die Tragik des Falls und vor allem der innere Kampf seines Personals, sich mit den eigenen Gefühlen arrangieren zu müssen. Darf man froh sein, vom neunjährigen Marlon erlöst worden zu sein, auch wenn er dafür sterben musste? Es ist eine der fiesesten Fragen, die wir uns als humane Gesellschaft stellen können.
Tatort: Marlon – So. 08.05. – ARD: 20.20 Uhr