ZDF-Doku von Claus Kleber

"Utopia": Wie viel Macht hat das Silicon Valley wirklich?

19.07.2022, 08.32 Uhr
von Maximilian Haase

Es ist ein Tummelplatz für Tech-"Nerds" – aber immer mehr auch für knallharte Kapitalisten. Claus Kleber und Angela Andersen begeben sich auf Spurensuche im Silicon Valley.

ZDF
Utopia
Dokumentation • 19.07.2022 • 23:00 Uhr

Als Schlagwort und Symbol existiert das "Silicon Valley", jener sagenumwobene Technologie-Hotspot in Kalifornien, nun schon eine ganze Weile. Doch wo es anfangs um Computernerds mit zukunftsträchtigen Visionen ging, befindet sich heute die Schaltzentrale des digitalen Kapitalismus. Am Hebel sitzen nicht mehr die verschrobenen Tüftler und Utopisten, einst beeinflusst von den Träumereien der Hippie-Bewegung – sondern knallharte Investoren. Grundlegend verändern wollen die milliardenschweren Genies die Welt noch immer. Doch geht es dabei längst nicht mehr um gerechtere Verteilung von Information über das Internet, sondern um die Gesellschaft und ihre Prozesse allgemein. Wie das Silicon Valley fast alle Bereiche unseres Lebens beeinflusst, zeigt nun die ZDF-Doku "Utopia", für die sich Claus Kleber und Angela Andersen abermals nach Kalifornien begeben haben.

Bereits 2007 und 2016 hatten sich die Dokumentarfilmerin und der Journalist, der Ende vergangenen Jahres sein letztes "heute journal" präsentiert hatte, auf den Weg gemacht, die "Schöne Neue Welt" näher in Augenschein zu nehmen. Auf den filmischen Einblick ins Denken der Fortschrittsvisionäre und Unternehmer folgten Nominierungen und Auszeichnungen – und die Erkenntnis, dass wir unser Leben mit seinen Computern und Smartphones, mit Internet und Social Media fast ausschließlich dem Silicon Valley zu verdanken haben: In kaum 20 Jahren stattete man fünf Milliarden Menschen mit tragbaren Supercomputern aus, auf denen das gesamte Wissen der Menschheit jederzeit abrufbar ist. Nicht nur das: Von der Gehirnforschung und Genetic Engineering über Architektur und Transportwesen bis hin zu Tourismus, Raumfahrt und menschlichen Beziehungen ist der Einfluss des Valleys bis heute überall spürbar.

Das ging so lange gut und sorgte auch in der letzten ZDF-Doku zum Thema bisweilen für Bewunderung, bis 2016 Unfriede ins Paradies Einzug hielt – und die düsteren Seiten der umfassenden Gesellschaftskontrolle vor Augen führte. Der Brexit und die Wahl Donald Trumps bildeten eine Zäsur, der naive Blick auf die kalifornischen Unternehmen war plötzlich passé. Denn trotz ihres Einflusses auf die Politik und die einhergehenden gravierenden Folgen, stellen sich die Big Player Facebook, Twitter, Google und Co. nur zögerlich ihrer Verantwortung. Jede Art Kontrolle von außen ist ihnen zuwider, so der Tenor der Doku, Auch deshalb ist der "Irre Visionen in Silicon Valley" untertitelte Film kritischer geraten als die beiden Vorgänger.

So habe man die mächtigsten Akteure, also Elon Musk oder Mark Zuckerberg, "auch nach einem Jahr intensiver Bemühungen" nicht für Interviews gewinnen können, wie es in einer Ankündigung des Senders heißt: "Sie schaffen ihre Publika längst selbst – mit Reichweiten, die kein Verlag oder Sender bieten kann. Und in denen sie allein den Kontext bestimmen". Das Denken dieser Männer einer in der Tat sehr männlich geprägten Sphäre illustriert die Doku anhand öffentlicher Äußerungen und in Gesprächen mit Expertinnen und Experten und Insidern.

"Wir bitten nicht um Erlaubnis"

So etwa mit Han Zhang, Ex-Ingenieur in Musks Neuralink-Projekt, das einst mithilfe von Elektroden in menschlichen Gehirnen diese mit Datenbanken, KI und anderen Hirnen verknüpfen will. Was dystopisch klingt und einer Folge "Black Mirror" entsprungen scheint, beleuchtet auch Zhang kritisch; "We may lose individuality", sagt er. Und doch ist es für ihn der Königsweg, um künstlicher Intelligenz keine größere Macht zu verschaffen. Zu Wort kommt auch Chris Anderson, jetzt COO von Larry Pages Unternehmen "Kitty Hawk", das an autonomen Lufttaxis werkelt. Diese Sci-Fi-Utopie unter allen Umständen umzusetzen hat für den Ingenieur Priorität. Sein Motto lautet entsprechend: "Wir bitten nicht um Erlaubnis. Notfalls bitten wir um Vergebung."

Kleber und Andersen interviewen auch Kritikerinnen und Kritiker des Silicon Valleys – so etwa Whistleblowerin Francis Haugen, die jahrelang bei Facebook beschäftigt war. Bis sie als Teamleiterin einer Ethik-Abteilung zu dem Schluss kam, dass das Unternehmen die eigenen finanziellen Interessen höher gewichte als die Verantwortung. Ihre Erkenntnisse machten medial die Runde: Facebook selbst hatte Nachweise, das der Algorithmus des sozialen Netzwerkes Hass und Gewalt befeuere. Der Konzern ignorierte die Warnung, Haugen wurde zur berühmten Mahnerin.

Auch der Stanford-Kulturwissenschaftler Fred Turner gilt als einer der schärfsten Kritiker von Zuckerbergs "Metaverse", das in naher Zukunft das virtuelle und reale Leben miteinander verschmelzen soll. Droht hier – von Kryptowährung bis zur Raumfahrt – eine neue Art von undemokratischem Universum, dem Politik, Wirtschaft, Soziales, Kultur und Individuen untergeordnet sind? Für Turner kommt dieses Fortschrittsdenken einer Götzenhuldigung gleich. "Wenn sich das, was sie mit Social Media getan haben, im Metaversum wiederholt, dann wird die Menschheit das so nicht überleben", sagt auch Jaron Lanier, einst selbst einer der frühen Gurus des Silicon Valley und heute einer der größten Mahner: "Wir werden zurückgeworfen in eine dunkle Zeit – wie das Mittelalter. Eine sehr unangenehme Vorstellung." Man dürfe, so der Kritiker, die Zuckerbergs nicht gewähren lassen.

Utopia – Di. 19.07. – ZDF: 23.00 Uhr


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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