Die Auserwählten
09.06.2021 • 20:15 - 21:45 Uhr
Fernsehfilm, Drama
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Produktionsland
D
Produktionsdatum
2014
Fernsehfilm, Drama

Odenwaldschule, der Film

Von Eric Leimann

Christoph Röhl, früher selbst an der Odenwaldschule, inszenierte bereits den Dokumentarfilm "Und wir sind nicht die Einzigen". 2014 legte er ein fiktionales Stück zum Missbrauchsskandal am Elite-Internat nach, welches das Erste nun wiederholt.

Vier Jahre beschäftigte sich Regisseur Christoph Röhl mit einer der unglaublichsten Geschichten, die sich im Nachkriegsdeutschland ereigneten. Am hessischen Elite-Internat Odenwaldschule wurden über zwei Jahrzehnte mindestens 132 Kinder sexuell missbraucht. Auch wenn Gerold Becker, von 1972 bis 1985 Schulleiter, als einer der Haupttäter gilt – in Wahrheit waren es mehr als ein Dutzend Lehrer, andere Schulangestellte und Schüler, die in den 70-ern und 80-ern Missbrauch betrieben. Nach seinem starken Dokumentarfilm "Und wir sind nicht die Einzigen" (2011) inszenierte Röhl 2014 auch den Spielfilm zum Thema. Ulrich Tukur gibt in "Die Auserwählten" – nun erneut im Ersten zu sehen – den Becker-Wiedergänger Simon Pistorius, Julia Jentsch eine junge Lehrerin, die gegen das "System Odenwaldschule" kämpft.

Eine hippieske Utopie

Ende der 70-er tritt die junge Biologie-Lehrerin Petra Grust (Jentsch) ihre neue Stelle an der Odenwaldschule an. Der charismatische Schulleiter Simon Pistorius (Tukur) regiert hier wie Gott, angehimmelt vom Lehrkörper und den meist wohlhabenden Eltern. Es scheint ein Geist von Freiheit und Liebe zu herrschen. Der Campus im malerischen Hügelland des Mittelgebirges gleicht einer hippiesken Utopie des Laissez Faire. Petra registriert jedoch auch irritierende Dinge: Der Konsum von Drogen und Alkohol ist immens. Auch das gemeinsame Duschen von Schülern und Lehrern beiderlei Geschlechts findet sie gewöhnungsbedürftig.

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Bald fällt Petra Grust der 13-jährige Frank Hoffmann (Leon Seidel) auf. Ein verstörter Junge, der völlig unzugänglich wirkt. Es folgen Beobachtungen, die in der Lehrerin einen schrecklichen Verdacht nähren: Offensichtlich haben Lehrer sexuelle "Beziehungen" zu Kindern. Schulleiter Pistorius scheint einer der Täter zu sein. Versuche der Neuen, Kollegium und Eltern auf diese Zustände aufmerksam zu machen, enden in einem Eklat – gegen Petra. Pistorius hat die Odenwaldschule fest im Griff. Erst Jahrzehnte später, als erwachsene Opfer wie Frank Hoffmann (Patrick Joswig) ihre Scham überwinden und Anklage erheben, kehrt auch Petra Grust (Johanna Gastdorf) an die Odenwaldschule zurück. Auf einem Treffen der Ehemaligen erhebt sie ihre Stimme.

Zurückhaltend inszeniert

Hätte Christoph Röhl in seinen Spielfilm die krassesten, tatsächlich dokumentierten Missbrauchsfälle der Odenwaldschule in Szene gesetzt, die meisten Zuschauer würden wohl abschalten oder das Geschehen als surreal übertrieben bezeichnen. So gab es zum Beispiel einen Lehrer, der seine "Familie" – eine Gruppe ihm zugeteilter Schüler – am Wochenende stets zum zweiten Frühstück einlud. Während sich der Rest der Kinder im Nachbarzimmer Marmeladenbrote schmierte, lag jener Lehrer nackt im Bett mit einem neunjährigen Jungen. Durch die geöffnete Tür konnten die anderen beim "Liebesspiel" zusehen. Szenen wie diese gibt es keine in "Die Auserwählten". Der Missbrauch wird ersichtlich, aber zurückhaltend inszeniert. Die Wirkung des Films entfaltet sich aus dem Wissen um die Geschehnisse, weniger aus einem Schockeffekt der Bilder heraus – der sicher auch möglich gewesen wäre.

Röhl, dessen grandioser Dokumentarfilm "Und wir sind nicht die Einzigen" fast noch ein wenig beeindruckender ist, inszeniert Ulrich Tukur als lächelnden, selbstgerechten Pädagogen. Dieser legt sich seine eigenwillige Welt des Eros rücksichtslos zurecht, wie es ihm gefällt. Regisseur Röhl nahm sich in vielen Szenen Tukurs Auftritte Hitlers vor seinen Anhängern zum Vorbild, um Pistorius als pseudoliberalen und linke Version eines Verführers und Faschisten zu porträtieren. Dies beinhaltet ein wenig die Gefahr, das "System Odenwaldschule" als Werk eines Mannes zu verharmlosen, ist aber laut Christoph Röhl der dramaturgischen Verdichtung geschuldet. Immerhin gibt es im Film noch einen weiteren Lehrer, der als Täter gezeigt wird.

Die Auserwählten – Mi. 09.06. – ARD: 20.15 Uhr


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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