In einem poetischen, gleichzeitig hyperrealistisch erscheinenden Monumentalfilm entführte "Heimat"-Erzähler Edgar Reitz den Zuschauer in das Leben armer Leute im Hunsrück um 1840.
Vier Jahre hatte der damals schon fast 80-jährige deutsche Regisseur Edgar Reitz an seiner filmischen Rückkehr in den Hunsrück gearbeitet. Jener Mann, der den Deutschen mit der TV-Trilogie "Heimat" zwischen 1984 und 2004 ein Straßenfeger-taugliches Stück große Kunst bescherte, weil er Leben und Geschichte kleiner Leute ebenso präzise wie anrührend zu beschreiben wusste. Mit "Die andere Heimat" erschuf Edgar Reitz 2013 noch einmal ein großes Kinowerk, das mit dem Deutschen Filmpreis und anderen hochkarätigen Auszeichnungen prämiert wurde. 3sat zeigt das schwarz-weiße Meisterwerk nun wenige Tage vor dem 85. Geburtstag des deutschen Autors und Filmregisseurs Edgar Reitz am 1. November.
"Die andere Heimat" erzählt vom Leben zweier Brüder im Hunsrück um 1840. Jakob (Jan Dieter Schneider) ist ein belesener Träumer, der die Sprache der Amazonas-Indianer studiert und plant, nach Brasilien auszuwandern. Jakobs älterer Bruder Gustav (Maximilian Scheidt) hingegen versucht, sich im heimischen Schabbach eine bescheidene Zukunft aufzubauen. Das Leben der Brüder wird anders verlaufen, als es die jungen Männer gedacht hätten.
Im romantischen Überschwang seiner Jugend rennt Jakob über Felder und durch Wälder oder vergleicht auf Steinen liegend die Sprachen der Indianer, als würde er Poesie rezitieren. Nebenbei hat der 20-Jährige ein Auge auf das süße Jettchen (Antonia Bill) geworfen, die mit ihrer Freundin, dem so schön singenden Florinchen (Philine Lembeck), ebenfalls durch die Hunsrücker Natur streift. Das verträumte Leben könnte so schön sein, wäre da nicht Jakobs Vater Johann (Rüdiger Kriese). Dem ist der "faule" Lebenswandel seines jüngeren Sohnes ein Dorn im Auge. Leben heißt für die einfache Hunsrücker Landbevölkerung jener Zeit vor allem: Arbeit, ein karges Essen, schlafen und dann wieder Arbeit.
Schmied Johann und seine in einem historisch windschiefen Haus lebende Großfamilie kennt – bis auf Außenseiter Jakob – keinen anderen Alltag. Gepeinigt von Hunger, Kälte, häufigen Todesfällen und einer arroganten, willkürlichen Obrigkeit, machen sich immer mehr Menschen jener Zeit auf. Neben ihren hoch bepackten Pferdewagen laufen sie hinunter zum Rhein, der sie zu jenen Schiffen bringt, die nach Nord- und Südamerika fahren. Auch Jakob will bald Teil dieses großen Trecks in eine bessere Zukunft werden. Ob Jettchen, das sich ebenso zu dem stürmischen Träumer hingezogen fühlt, ihn auf diesem Weg begleiten wird?
Natürlich hat man ein bisschen Angst vor dreieinhalb Stunden Schwarz-Weiß-Film, der jedoch immer wieder "magische" Farbtupfer enthält. Von anstrengendem Kopfkino kann hier jedoch keine Rede sein. Die Bilder von Edgar Reitz und seinem brillanten Kameramann Gernot Roll erzeugen einen erzählerischen Sog, dem man sich, ist man einmal drin in diesem erstaunlich fremd aussehenden Deutschland, kaum entziehen kann.
"Die andere Heimat" ist aber nicht nur stark erzählt, sondern zugleich großes Ausstattungskino. Das Zuschauen fasziniert, weil Reitz und sein während der Dreharbeiten verstorbener Szenenbildner Toni Gerg ein anderes, vielleicht authentischeres Bild deutscher Vergangenheit erschufen. Alle Häuser, Inneneinrichtungen, Kleider und Geräte wurden in Handarbeit nach alten Lebensbeschreibungen hergestellt. Auch diese Authentizität sorgt dafür, dass man als Zuschauer dieses Filmspektakels an einer fremden, faszinierenden Welt teilnimmt. Mit "Die andere Heimat" ist Edgar Reitz noch einmal ein großer Film gelungen. Man wird diesen Magier eines poetischen Realismus vermissen, wenn sein Kino dereinst mit ihm zu Ende gegangen sein wird.