Hitchcock in Luzern: Regisseur Dani Levy schickt seine Ermittler durch einen atemlosen "Tatort", der (fast) ganz ohne Schnitt auskommt.
Ob der große Alfred Hitchcock jemals etwas vom deutschen "Tatort" gehört hat, ist nicht überliefert. Rechnerisch möglich wär's: Als der Regiealtmeister 1980 starb, feierte der Sonntagskrimi seinen zehnten Geburtstag. Umgekehrt bedient sich der "Tatort" immer wieder bei dem Briten, etwa beim berühmten "Fenster zum Hof" ("Hitchcock und Frau Wernicke", 2010) oder mit einer Reminiszenz an "Psycho" ("Borowski und der stille Gast", 2012). Für seinen Luzerner "Tatort: Die Musik stirbt zuletzt" hat der Schweizer Dani Levy ("Alles auf Zucker!") nun ebenfalls in die Hitchcock'sche Trickkiste gegriffen: Er drehte seinen Film in nur einer Einstellung, ganz ohne Schnitt. Wir das geht, hatte Hitchcock bereits 1948 vorgemacht.
Wobei der Regisseur damals, bei "Cocktail für eine Leiche", ordentlich tricksen musste. Schließlich konnte er nicht länger als zehn Minuten am Stück drehen, weil die Filmrollen nicht länger waren. Also behalf sich Hitchcock mit "unsichtbaren Schnitten", die die Illusion einer einzigen, 80-minütigen Kamerafahrt simulierten. In Zeiten von Digitalkameras hat Dani Levy das nun nicht mehr nötig. Wobei der 90-Minuten-Dreh für alle Beteiligten freilich auch so nicht einfach war.
Nicht nur, weil sich Levy als Handlungsort nicht einfach eine Wohnung ausgewählt hat, sondern ein ganzes Konzerthaus samt Umgebung. Da muss natürlich vor allem das Timing passen, muss jeder Schauspieler und jeder der vielen 100 Komparsen immer rechtzeitig auf seinem Platz sein. "Die größte Herausforderung war es, den kompletten 90-minütigen Film mit allen Dialogen, Bewegungen und Abläufen im Kopf gespeichert zu halten", erklärt Kameramann Filip Zumbrunn. Das Ergebnis dieser Mühen überzeugt vor allem am Anfang des Films. Regisseur Levy erzeugt durch den Echtzeitdreh einen gewaltigen Sog, dem man sich zunächst nur schwer entziehen kann. Der Zuschauer "ist sozusagen 'mit' dabei, auf einer lückenlosen Reise durch eine Geschichte", erklärt der 60-jährige Filmemacher aus der Schweiz.
Mit hineingenommen in diese Geschichte wird man von Franky Loving (Andri Schenardi), dem Sohn von Millionär und Mäzen Walter Loving (Hans Hollmann). "Das ist 'ne erbärmliche Geschichten heute Abend. So was gibt es nur im Fernsehen", wendet sich Loving Junior direkt an den Zuschauer. Immer wieder wird er im Laufe der nächsten anderthalb Stunden zum "Tatort"-Gucker daheim vorm Fernseher sprechen. "Filme mit Polizisten sollten verboten sein", sagt er einmal. Oder: "100 Tote pro Woche im Fernsehen können nicht irren. Das Dunkle ist so relevant, das Leichte nur Unterhaltung." Meta-Ebene, ick hör dir trapsen!
Die Geschichte, die Levy erzählt (er schrieb auch das Drehbuch), hat es in sich. Loving Senior, ein gebrechlicher alter Mann, hat ins Kultur- und Kongresszentrum Luzern zum Benefizkonzert eingeladen. Es spielt das argentinische Jewish Chamber Orchestra, auf dem Programm stehen Werke jüdischer Komponisten, die von den Nazis ermordet wurden. Als einer der Musiker nach wenigen Takten hinter die Bühne kriecht und röchelnd zusammenbricht – er wurde offenbar vergiftet -, übernehmen die Kommissare Liz Ritschard (Delia Mayer) und Reto Flückiger (Stefan Gubser) die Ermittlungen, während im Saal weitergespielt wird. Ritschard war sowieso vor Ort ("privater Zufall") und fragt sich im Abendkleid durch die Reihen der Zeugen, Flückiger wird in Flip-Flops, mit drei Bier intus und dem Sohn der Freundin im Schlepptau, von einem Fußballspiel direkt zum Tatort gerufen.
Satte 35 Minuten dauert es, bis das Ermittlerteam komplett vor Ort ist. Leider hält "Die Musik stirbt zuletzt" schon da das rasante Anfangstempo nicht mehr durch. Dass Walter Loving Dreck am Stecken hat und von einem schlechten Gewissen geplagt wird, ahnt man schnell. Bis die Bombe aber platzt (und Erinnerungen an die aktuelle Flüchtlingskrise weckt – mehr sei hier nicht verraten), vergeht arg viel Zeit. Zwischendrin driftet dieses Echtzeit-Experiment gar ins Seifenopernhafte ab, dann nämlich, wenn Loving Senior seiner jungen Freundin Elena (Uygar Tamer) einen Heiratsantrag macht und wenig später erfahren muss, dass sie von seinem eigenen Sohn ein Kind erwartet. Inhaltlich hetzt Levys Film seiner ungewöhnlichen Form etwas planlos hinterher.
Gedreht wurde der Luzerner "Tatort" übrigens gleich viermal, zweimal auf Schweizerdeutsch (fürs Schweizer Fernsehen SRF) und zweimal auf Hochdeutsch; gesendet wird jeweils die "beste" Version. Wobei Hauptdarstellerin Delia Mayer klarstellt: "Nicht Perfektion ist das Ziel, sondern das Unplanbare: Es ist Improvisationsvermögen gefragt, um auf alles zu reagieren, intuitiv zu erfinden, um sich und die anderen zu überraschen." Diese ganz kurzen Momente, in denen der Film für einen Sekundenbruchteil den Atem anhält, weil er nicht weiterweiß, sind dann auch die sympathischsten in diesem "Tatort".