Geld macht wohl doch nicht glücklich: Im zweiten Schweizer "Tatort: Schoggiläbe" aus Zürich untersuchen die Ermittlerinnen den rätselhaften Tod eines Schokoladenfabrikanten. Auseinandersetzen müssen sie sich nicht nur mit den Abgründen der Wohlhabenden, sondern auch mit ihren eigenen Biografien.
Neben schönen Tälern und wirtschaftlichem Aufschwung hat die Schweiz auch eine Menge Abgründe zu bieten. So jedenfalls scheint der Tenor der neuen "Tatort"-Folgen aus Zürich zu lauten. Blickte bereits die Premierenepisode auf soziale Proteste und Polizeigewalt, wirft der zweite Fall des Ermittlerinnen-Duos abermals kein gutes Licht auf gewisse Realitäten der Alpenrepublik. Immerhin widmet sich der wieder von Regisseurin Viviane Andereggen inszenierte Krimi diesmal einer weltweit beliebten Schweizer Spezialität: der Schokolade. Zur heimattümelnden Tourismuswerbung taugt der "Tatort: Schoggiläbe" dennoch keineswegs: Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher) und Tessa Ott (Carol Schuler) ermitteln im Fall eines getöteten Schokofabrikanten – und beleuchten dabei nicht nur die Schattenseiten des eidgenössischen Wohlstands, sondern auch ihre eigene Herkunft in der Klassengesellschaft.
Schließlich führt der Fall die Profilerin Ott zurück in jenes noble Villenviertel, in dem sie aufwuchs. "Sie kennen sich hier aus", stichelt Kommissarin Grandjean, die aus der Arbeiterschicht stammt und ihrer Kollegin noch immer vorhält, die Stelle nur aufgrund ihrer guten Kontakte erhalten zu haben. "Hier hat mein erster Freund gewohnt", entgegnet Ott stoisch. Der Name des Toten und dessen Familie sagen ihr selbstredend etwas ("Altes Geld") – man kennt sich eben: Hans-Konrad Chevalier, seines Zeichens Unternehmer und Leiter einer berühmten Schokoladenfabrik, wurde ermordet in seinem Luxusanwesen am Zürichberg gefunden. Dort, wo die Schweizer Oberschicht millionenreich die titelgebende Schokoladenseite des Lebens auskostet, führte der verzweifelte Chef von "Chocolat Chevalier" ein gleichsam depressives Dasein. Seine Homosexualität, so finden die Ermittlerinnen heraus, musste er fern von Familie und Highsociety ausleben.
Ein Suizid kommt dennoch nicht infrage – schließlich wurde das Opfer brutal erschlagen, zudem noch erschossen. Befragt wird zunächst seine Tochter Claire (Elisa Plüss) – natürlich eine frühere Bekannte von Ott -, die nun die Nachfolge ihres Vaters antreten will. Als dessen Co-Managerin hatte sie schon länger versucht, das Traditionsunternehmen zu modernisieren, doch auch ihr etwas zu zwielichtig ins Drehbuch geschriebener Verlobter (Urs Jucker) will sich einen Vorteil verschaffen.
Wäre da nicht die alte Mathilde Chevalier, herausragend missmutig gespielt von Sibylle Brunner: Die Mutter des Toten verachtete ihren Sohn ob dessen sexueller Orientierung, sorgte aber zugleich dafür, das Familienerbe sicherzustellen. In Konkurrenz zu ihrer Enkelin versucht sie nun, die Macht in der Firma wieder an sich zu reißen. Dass das Unternehmen schon länger Miese machte, lässt die Familie jedenfalls ebenso schlecht dastehen wie die Tatsache, dass Claire im Machtkampf mit ihrer Großmutter ( "Sie ist so ein Zombie. Die Familie ist so abgefuckt") das Testament ihres Vaters verschwinden lässt.
In dieser komplexen Gemengelage lässt es sich nur schwer ermitteln – zumal auch ein junger Liebhaber des Firmenchefs ins Visier gerät und eine Beziehungstat wahrscheinlich werden lässt. Einen Hoffnungsschimmer liefert immerhin eine mögliche Zeugin: Die Haushälterin Esmeralda Rivera (Isabelle Stoffel) könnte den Mord in der Villa ihres Chefs beobachtet haben. Als sogenannte "sans papier", also Migrantin ohne Papiere, traut sie sich jedoch nur zögerlich, mit der Polizei zu sprechen. "Ein verbreitetes Problem, gerade am Zürichberg", macht der Krimi hier auf einen politischen Missstand aufmerksam – und liefert zudem Wissenswertes: "Die Schulpflicht wird höher gewertet als ein Verstoß gegen das Ausländergesetz." Überhaupt thematisiert Regisseurin Andereggen wie schon in ihrem ersten "Tatort: Züri brännt" die Widersprüche kapitalistischer Gesellschaften in vielerlei Hinsicht. Die Schweiz und ihr Reichtum liefern dahingehend eine gigantische Projektionsfläche.
So sprechen die Hauptdarstellerinnen in gewagt experimentellen Szenen direkt zum Publikum: "Auf so was ist man in Zürich nicht vorbereitet", berichtet Grandjean von einem Obdachlosen, den sie unter den Briefkästen ihres Hauses liegen sah. Gemacht habe sie nichts: "Ich bin zur Arbeit gegangen", gibt sie zu, und fragt: "Was hätten Sie getan?". An anderer Stelle konfrontiert Ott die Zuschauer mit den Privilegien der Sprösslinge reicher Familien, während Staatsanwältin Anita Wegenast (Rachel Braunschweig) süffisant die Charity-Events der Oberschicht kommentiert (das im Übrigen, nachdem sie "Drogenhandel, Fahrerflucht, bewaffneter Raubüberfall" auf die Melodie von "Freude schöner Götterfunken" sang). Der neue Zürich-"Tatort" hält nicht nur den Schweizern konsequent den Spiegel vor.
Die Vermögensverteilung der Eidgenossen tangiert auch die Hauptfiguren: "Die Otts haben immer nur ihre eigenen Vorteile im Blick. Darum sind wir so reich", witzelt die Profilerin über das Dauerthema ihrer Herkunft. Nicht nur diese Ambivalenz sorgt zwischen den Ermittlerinnen für dicke Luft: Ott scheitert in einer Szene am Umgang mit der Waffe und setzt nicht nur ihren Job, sondern auch das Leben ihrer Kollegin aufs Spiel. Die wiederum liebäugelt schon jetzt mit der Kündigung: "Ich fühle mich hier in Zürich einfach nicht zu Hause. Diese Stadt ist ..." – Sie lässt den Satz vielsagend offen.
Egal, ob Ott frustriert mit Fremden knutscht oder Grandjean versucht, zu ihrem Sohn durchzudringen: Neben der klugen, vielseitigen, wenn auch etwas überladenen Story um Familienimperien, Reichtum, Homophobie und Papierlose zeigt Andereggen ihre Protagonistinnen immer zugleich beim Ringen ums gute Leben. Das ist auch ein feministisches Anliegen: "Mir war wichtig zu zeigen, dass die Hauptfiguren ambivalent und vielschichtig sind, mit einer selbstbewussten Weiblichkeit", so die Regisseurin. Noch immer sei es "keine Normalität", "Frauen mit Selbstbewusstsein in Führungspositionen im TV darzustellen". Und: "Eine funktionierende und erfolgreiche Gesellschaft sollte meiner Meinung nach allen Menschen die gleichen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung anbieten und ihre Verdienste auch wertschätzen."
Es ist diese Grundhaltung, die man auch Viviane Andereggens zweitem "Tatort" durchweg anmerkt. Ach ja, um Schweizer Schokolade geht es am Rande dann immerhin doch noch – so erfährt der Zuschauer von der alten Chevalier: "Im Zweiten Weltkrieg, als Schokolade knapp war, haben wir sie mit Haselnüssen gestreckt. Not macht erfinderisch." Es ist nun mal nicht alles Schoggi, was danach aussieht.
Tatort: Schoggiläbe – So. 28.02. – ARD: 20.15 Uhr