Welche Sensationen hält Ulrich Tukur als "Tatort"-Ermittler Felix Murot in seinem zehnten Fall bereit? Im Psychothriller über die Kinder eines obdachlosen Philosophieprofessors zeigt Gaststar Lars Eidinger Auftritte, die seinen "stillen Gast" wie einen biederen Gesellen wirken lassen.
Vor einigen Wochen durfte Lars Eidinger als im Gefängnis einsitzender Mörder Kai Korthals den "Tatort: Borowski und der gute Mensch" mit einem Monolog aus Schillers "Die Räuber" eröffnen. Nun ist Eidinger schon wieder als Episoden-Hauptdarsteller im deutschen Edelkrimi zu sehen – und seine Figur wird wiederum über einen Bühnen-Monolog eingeführt. Besagte Szene aus Ulrich Tukurs zehntem Einsatz als Kommissar Felix Murot umspannt die Sendeminuten 17 bis 20 des Films. In einer assoziativ gedichtenen Slam Poetry-Performance zeigt Eidingers Figur Paul, ein exzentrischer Alleinunterhalter und Sohn des toten Philosophie-Professors Jochen Muthesius, wo sprachlich und gedanklich in diesem Film die Grenzen abgesteckt sind. Achtung, (kleiner) Spoiler: Sie liegen ziemlich weit außerhalb des Spielfeldes eines normalen Krimis.
Murot hat vor seiner Zeit bei der Polizei beim Vater des Performers studiert. Ja, er war fast so eine Art Guru für ihn. Doch noch mal kurz zurück zur Machart des Films: Der dreiminütige Eidinger-Monolog dürfte auch statistisch betrachtet eine Zäsur im 90 Minuten-Krimi darstellen. An dieser überaus schrägen Stelle könnten hunderttausende Zuschauerinnen und Zuschauer, ach was: ein bis zwei Millionen aus einem Programm aussteigen, von dem man allerdings schon vorher hätte wissen können, dass einmal pro Jahr der konzeptionelle Free Jazz in die Krimireihe "Tatort" einzieht. Dann nämlich, wenn Murot seinen herbstlichen Auftritt hat.
Das Drehbuch des renommierten Autors Martin Rauhaus ("Und wer nimmt den Hund?"), der mit Anfang 60 sein "Tatort"-Debüt feiert, schlägt einige erzählerische Kapriolen, um das eigentliche Thema zu erreichen. Die Geschichte beginnt als Thriller: Frankfurt wird von einem Serienmörder in Atem gehalten. Alle Opfer werden per Genickschuss getötet, zwischen ihnen gibt es keinerlei Verbindung. Da es sich um zwei "Nicht-Deutsche" und einen Obdachlosen handelt, vermutet man zunächst einen Täter aus dem rechten Milieu. Kommissar Murot hat jedoch einen anderen Verdacht. Er glaubt, dass die beiden ersten Morde nur den Zweck hatten, das Ganze wie eine Mordserie aussehen zu lassen, während es dem Täter in Wahrheit nur um das dritte Opfer ging – den ehemaligen Star-Philosophen Jochen Muthesius.
Doch was ist mit der Familie des gefeierten Wissenschaftlers passiert? Die Ehefrau und Mutter seiner drei Kinder hat sich vom Hochhausdach in den Tod gestürzt. Der Professor selbst lebte seine letzten Jahre – trotz beträchtlichem Vermögen – freiwillig auf der Straße. Auch die längst erwachsenen Kinder des Professors gehen sehr unterschiedliche Lebenswege: Paul als dichtender Zyniker und Tagedieb, Inga (Karoline Eichhorn) als Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Familienaufstellung und Nesthäkchen Laura (Friederike Ott), die mit dem Geld ihres Vaters eine Stiftung für Bedürftige gründete. Murot und seine Assistentin Magda Wächter (Barbara Philipp) steigen tief in die Vergangenheit der Familie Muthesius ein, die sicher zu den seltsamsten und dunkelsten zählt, die jemals ein deutscher Fernsehfilm hervorbrachte.
Der vielfach preisgekrönte Regisseur und gebürtige Frankfurter Rainer Kaufmann ("Operation Zucker") inszenierte zum ersten Mal in seiner langen Karriere in Frankfurt, was dem erfahrenen Filmemacher laut eigener Aussage ein ähnliches Gefühl verlieh wie seiner nachdenklichen Ermittlerfigur Murot, von der man sich tatsächlich gut vorstellen kann, dass sie früher mal Philosophie studierte. Ähnlich wie Murot spürte auch Kaufmann alten Frankfurter Mythen und großen Ideen nach, die aus einer Zeit stammen, als die hessische Metropole während der 60-er mit Philosophen wie Adorno, Horkheimer und Habermas als Zentrum der europäischen Philosophie galt. "Das war, bevor sie die Bankentürme hochzogen", belehrt Murot seine Mitarbeiterin Wächter, die daraufhin angibt "nur mittlere Reife " zu haben und von der "Frankfurter Schule" keine Ahnung zu haben.
Einen Studienabschluss in Philosophie braucht man fürs Verständnis des neuen Murot-Coups zwar nicht, aber es kann nicht schaden, sich die Grundzüge von Ernst Blochs "Das Prinzip Hoffnung" kurz reinzuziehen, um sich über Parallelen zwischen Kriminalfall und philosophischem Werk zu freuen. Andererseits: Nachdem Murot respektive seine Erfinder beim Hessischen Rundfunk in den letzten Fällen eher zugängliche, weil sehr unterhaltende Werke schufen – die Claude Chabrol- und Jacques Tati-Hommage "Die Ferien des Monsieur Murot" oder den 70er-Retro-Thriller "Angriff auf Wache 08" – geht es dieses Mal experimentell und Kunstfilm-mäßig ziemlich zur Sache: Die Rollen sprechen in Richtung der Zuschauer oder werden gleich als lebende Figuren einer Familienaufstellung im Raum bewegt. Es gibt traumhafte Sequenzen, die durchaus Verwirrung stiften, und über allem steht das Problem, dass man sich beim Zusehen mit recht künstlichen Charakteren arrangieren muss. Das ist bei Murot zwar nichts Neues, aber dieses mal ist die hessische Krimi-Herausforderung eher wieder was für Menschen, die 2015 den umstrittenen Murot-Fall "Wer bin ich?" gut fanden. Ein Krimi für selbstverliebte Denker und jene, die ebensolche Figuren gut finden.
Tatort: Murot und das Prinzip Hoffnung – So. 21.11. – ARD: 20.15 Uhr