Zweiteiler nach einem Roman von Lenz

"Der Überläufer": ARD-Verfilmung kann sich sehen lassen

von Eric Leimann

Jahrzehntelang lag Siegfried Lenz' Roman "Der Überläufer" über einen Soldaten im Zweiten Weltkrieg in einer Schublade, erst nach dem Tod des Schriftstellers wurde er entdeckt. Für die ARD wurde er nun verfilmt. Herausgekommen ist ein kluger, zweiteiliger Kriegsfilm.

ARD
Der Überläufer (1)
Kriegsdrama • 08.04.2020 • 20:30 Uhr

Knapp 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland und Europa erzählt ein zweiteiliger ARD-Film von jenen Tagen und Wochen rund um den endgültigen Zusammenbruch des "Dritten Reiches". Nicht aus dem Führerbunker oder aus der Perspektive sonstiger Kriegsstrategen berichtet Siegfried Lenz' 1951 als zu heikel vom Verlag abgelehnte Romanvorlage, sondern aus Sicht des jungen Soldaten Walter Proska (Jannis Niewöhner), der kurz vor Kriegsende vom heimischen Bauernhof noch ein letztes Mal an die Ostfront geholt wird.

Unterwegs lernt er die junge Polin Wanda (Małgorzata Mikołajczak) kennen. Es entstehen zarte, scheinbar flüchtige Liebesbande – verbotenerweise natürlich. Wahrscheinlich wird Walter Wanda ohnehin nie wieder sehen, denkt er sich. Vor allem, nachdem er alsbald bei einer surreal anmutenden, letzten deutschen Verteidigungseinheit landet, die in einem polnischen Wald vom brutalen Unteroffizier Willi Stehauf (Rainer Bock) geleitet wird. Die versprengte, fast möchte man sagen verwahrloste Truppe erinnert an die letzte Stunde des Filmmeisterwerks Apocalypse Now, als der Wahnsinn des Krieges immer tiefere Spuren bei dessen (filmischen) Personal hinterlässt.

Während des ersten Teils des durchaus ansehnlichen Event Movies (Teil zwei zeigt das Erste am Karfreitag, 10. April, 20.15 Uhr) sieht man Walter Proska im polnischen Wald beim Überlebenskampf mit seinen Kameraden zu – dem Kommunisten Wolfgang Kürschner (Sebastian Urzendowsky), Hühnerfreund "Baffi" Ellerbrok (Bjarne Mädel) und anderen Verzweifelten. Die Truppe hat eigentlich keine Chance. Im Wald wimmelt es nur so von polnischen Partisanen. Auch die Rote Armee rückt immer näher.

Während Teil eins in einem langsamen, manchmal an Terrence Malicks poetischen Kriegsfilm "Der schmale Grat" erinnernden Erzähltempo mit vielen Naturbildern vor sich hin mäandert, gerät die Fortsetzung fast schon zum (klugen) Action-Film. Walter wird, so verrät es der Titel bereits, zur Roten Armee überlaufen. Ab diesem Moment muss er sich vor sich selbst, den neuen Freunden und alten Kameraden rechtfertigen. Wie kann man weiterleben, nachdem man größtmögliche Schuld auf sich geladen hat? Und gibt es überhaupt noch "das Richtige" in einer Welt, in der alle Werte aus den Fugen geraten sind und es nur noch ums Überleben geht?

Zu brisant: Verlag lehnte den Roman ab

Es sind jene Themen, die den jungen Siegfried Lenz in seinem Roman beschäftigten. Zu brisant, fand der Verlag – auch im Sinne der Karriere des jungen Autors. Von der Schuld hatten die Deutschen Anfang der 50er bekanntlich erst mal genug. Lenz war 1951 gerade einmal 25 Jahre alt. 2016, zwei Jahre nach seinem Tod, wurde sein "verlorener" Roman von Kritikern und Feuilletons mit Lob überschüttet. Präzise und durchaus soghaft beschrieb der junge Lenz einen ebenso jungen Soldaten, der keine klare Haltung, keine Position verteidigt, und der wohl gerade deshalb Anfang der 50er eine enorm provokante Figur gewesen wäre.

Die Verfilmung der Drehbuchautoren Bernd Lange ("Das Verschwinden") und Florian Gallenberger (auch Regie) findet die richtige Mischung aus teilweise kinoreifen Bildern, starken Dialogen und einer spannenden, weil niemals vorhersehbaren Handlung. Jannis Niewöhner ("Beat"), bei Ausstrahlung des Films gerade mal 28 Jahre alt, ist zweifellos der bestgebuchte deutsche Schauspielstar seiner Altersklasse. Auch hier zeigt er wieder mal eine starke Leistung, ebenso wie die polnische Schauspielerin Małgorzata Mikołajczak, die man getrost als Entdeckung feiern kann. In kleineren Rollen sieht man bekannte Gesichter wie Ulrich Tukur, Katharina Schüttler, Florian Lukas und Leonie Benesch.

"Der Überläufer" ist kein Film, der einen sofort mit seiner Genialität überrollt, aber er gräbt sich mit seiner bitteren, apokalyptischen Kriegsende-Geschichte in die Matrix des Zuschauers ein. 75 Jahre nach diesem Kriegsende – einer Zeit, in der immer weniger Deutsche jemanden kennen oder kannten, der den Krieg selbst erlebt hat – ist das unangenehme Gefühl, das dieser Film hinterlässt, wichtiger denn je.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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