ARD-Drama

"Für immer Sommer 90": Vergangenheitsbewältigung mit Charly Hübner

von Christopher Schmitt

Ein Wende-Gewinner kehrt nach 30 Jahren zurück in die alte Heimat. Was geschah damals an einem See in Mecklenburg-Vorpommern? Starkes Drama mit Charly Hübner.

ARD
Für immer Sommer 90
Drama • 06.01.2021 • 20:15 Uhr

Können Sie sich noch an den Sommer 1990 erinnern? Die Mauer war gefallen, die Wiedervereinigung stand bevor und die damals noch westdeutsche Fußballnationalmannschaft krönte sich in Italien zum Weltmeister. Insbesondere die Nacht, in der der damalige Teamchef Franz Beckenbauer entrückt über den Rasen des Römer Olympiastadions spazierte, war für viele eine feuchtfröhliche. So auch für den Jugendlichen Andy Brettschneider und seine Clique im sehenswerten Nach-Wende-Drama "Für immer Sommer 90". Verkörpert wird Andys 30 Jahre älteres Ich von einem hervorragenden Charly Hübner in der Hauptrolle, den drei Jahrzehnte nach eben dieser Nacht, die er an einem Mecklenburger See verbracht hatte, die Vergangenheit einholt. Dabei hatte er doch längst mit dieser Vergangenheit abgeschlossen – und mit all den Menschen, die ihm früher wichtig waren.

Denn nach besagter Nacht verließ das umschwärmte Handball-Ass seine Clique und Mecklenburg-Vorpommern Hals über Kopf und ohne sich zu verabschieden, ging in den Westen, studierte in Frankreich. 2020 hat er sich in der Finanzwelt profiliert und lebt als beinharter Karrieremensch und erfolgreicher Banker in Frankfurt am Main. Er sieht sich als Gewinner, der Blick geht nur nach vorne. Doch dann erreichen sowohl seinen Boss als auch seine Mutter anonyme Briefe, die aus seiner Sicht Ungeheuerliches behaupten: Er soll in seiner durchzechten Abschiedsnacht am See eine alte Freundin vergewaltigt haben. Andy ist von seiner Unschuld felsenfest überzeugt, aber wirklich erinnern kann er sich nicht.

Zunächst vermutet er eine berufliche Intrige seiner vermeintlichen Konkurrentin Bea (Lisa Maria Potthoff), doch dann entschließt er sich, seine ehemalige Clique aufzusuchen, um herauszufinden, wer hinter den Anschuldigungen steckt. Dabei wird sein Problem offensichtlich: Er hat sich nicht nur damals einfach aus dem Staub gemacht und seine Freunde im Stich gelassen, sondern interessiert sich auch 30 Jahre später nicht für deren Schicksal. Nur dafür, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Wenn Charakterdarsteller Charly Hübner zunächst Interesse heuchelt und mal auf ernsthafte Freude, mal auf eiskalte Schultern trifft, wirkt jeder einzelne Dialog glaubwürdig. Dabei setzt das Drama von Jan Georg Schütte und Lars Jessen auf Improvisation: Die Schauspieler kommen mit einem Minimum an Information aus und gewinnen auf diese Weise maximale Authentizität. Jeder in diesem hochkarätigen Cast macht dabei eine gute Figur. Wenn sich Andy der aufdringlichen Art seines ehemaligen Kumpels Sven (Roman Knizka) zu entziehen versucht, oder sich entrüstet gegen die Kapitalismuskritik der Feministin Annett (Christina Große) zur Wehr setzt, sind spritzige, manchmal giftige Wortgefechte garantiert.

Wo wir gerade bei Authentizität sind: Bei seiner Tour durch Deutschland, die den Protagonisten über Salzgitter, Leipzig und Neuruppin zurück in die Heimat nach MV und zu seinem ehemals besten Freund Ronny (Peter Schneider) führt, fällt eine Besonderheit ins Auge: In diesem Film wird die Corona-Pandemie nicht ausgeblendet. Viel mehr wurde aus der Not – erschwerte Drehbedingungen – eine Tugend gemacht. Masken sind allgegenwärtig, und der Schwester seines ehemals besten Freundes Berit (Karoline Schuch) machte die Pandemie den Traum vom Kiosk am See kaputt.

Auf dem mit Songs von Ton Steine Scherben und Gundermann unterlegten Roadtrip durch die neuen Bundesländer wird jedenfalls deutlich: Nicht alle zählen zu den Gewinnern der Wende – und seinen Lifestyle hat sich Andy mit einer ordentlichen Portion Rücksichtslosigkeit erkauft. Langsam setzt sich das Puzzle zusammen, und Andy – so viel sei verraten – kommt dabei gar nicht gut weg.

Ab 23. Dezember, 20.15 Uhr, ist "Für immer Sommer 90" als vierteilige Miniserie in der ARD-Mediathek verfügbar. Die etwas gekürzte Filmversion läuft am 6. Januar zur besten Sendezeit im Ersten.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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