Michael Antwerpes im Interview

Tour de France 2020: "Spannend, aber irgendwie auch ein bisschen bedrückend"

von Julian Weinberger

Allen Corona-Widrigkeiten zum Trotz strampeln Radprofis aus aller Welt ab 29. August wieder um den Sieg bei der Tour de France. Ein Gespräch mit ARD-Moderator Michael Antwerpes über gedämpfte Vorfreude, Hygienekonzepte und den aktuellen Ruf des Radsports.

Von den Olympischen Spielen in Tokio über die paneuropäische Fußball-EM bis Wimbledon: Beinahe allen Großereignissen im Sport machte die Corona-Pandemie dieses Jahr einen Strich durch die Rechnung – beinahe. Das größte und traditionsreichste Radrennen der Welt, die Tour de France, soll trotz aller Widrigkeiten stattfinden – wenn auch mit Verspätung. Wenn am Samstag, 29. August, in Nizza der Startschuss für die 107. Tour fällt, wird wie in den letzten Jahren üblich Michael Antwerpes als Moderator vor Ort sein und die Live-Übertragung im Ersten präsentieren – zumindest "Stand heute", wie der 57-Jährige im Interview betont. Denn sicher ist in diesen Tagen nichts ...

prisma: Wie groß ist Ihre Vorfreude auf die Tour de France?

Michael Antwerpes: Das ist ein wenig zwiespältig. Einerseits freue ich mich natürlich darauf, dass in diesem Jahr überhaupt ein sportliches Großereignis stattfindet. Andererseits ist auch die Sorge da, wie sich die Corona-Aktivitäten entwickeln. Dazu die Frage, wie sehr das eine andere Tour de France wird, ohne die Zuschauermengen, die man sonst kennt – kurz: spannend einerseits, aber irgendwie auch ein bisschen bedrückend.

prisma: Werden Sie, wie in den letzten Jahren üblich, live vor Ort sein?

Antwerpes: Momentan sieht es noch so aus. Aber hierzulande und auch in Frankreich steigen die Infektionszahlen ja wieder, und die Maßnahmen sind verschärft worden. Die ARD-Teamleitung der Tour in Saarbrücken steht nahezu jeden Tag mit den Verantwortlichen der ASO im Austausch. Stand heute sind wir vor Ort, wenngleich mit weniger Personal als üblich, und ich werde aus den einzelnen Etappenorten moderieren. Es gibt auch Alternativpläne, sollte zum Beispiel die Tour-Leitung kurzfristig alle Journalisten vor Ort ausschließen.

prisma: Fahren Sie mit einem mulmigen Gefühl nach Frankreich?

Antwerpes: Eigentlich nicht, weil ich nicht befürchte, mich unbedingt dort anzustecken. Man kann sich überall infizieren – ob das jetzt in Frankreich passiert oder bei mir zu Hause im Supermarkt. Wenn man die entsprechenden Hygieneregeln einhält, dann geht das schon. Natürlich würde ich aktuell nicht freiwillig in die USA fliegen, aber Frankreich ist – so denke ich – machbar. Ich habe also keine Angst, aber ein seltsames Gefühl, weil es eben komplett andere Rahmenbedingungen sind.

prisma: Haben Sie es im März oder April für möglich gehalten, dass dieses Jahr noch eine Tour de France stattfinden wird?

Antwerpes: Niemals! Ich hätte Ihnen im Gegenteil Brief und Siegel gegeben, dass sie abgesagt wird. Es purzelten ja die Absagen für alle möglichen Großereignisse wie die reifen Früchte von den Bäumen. Aber im Radsport ist es einfach so, dass die Tour de France das "One-and-only-Event" ist, ohne das die Sponsoreneinnahmen und die Vermarktung weltweit gefährdet sind. Man sieht daran aber auch, welche Bedeutung diese Rundfahrt für die Nation hat.

prisma: Ja?

Antwerpes: Frankreich war extrem gebeutelt von Corona. Trotzdem haben sie mit allen Mitteln versucht, die Tour zu retten. Sie ist ein Nationalheiligtum, geradezu eine Religion für die Franzosen. Das Letzte, worauf sie im Sommer verzichten würden, ist die Tour.

prisma: Einer der Fahrer, John Degenkolb, sagte im März in einem Interview: "Die Tour steht nicht über dem Wohl der Bürger." Ist es unter den aktuellen Rahmenbedingungen vertretbar, dass eine der größten Sportveranstaltungen der Welt stattfindet?

Antwerpes: Ich vertraue da den örtlichen Behörden. Die Franzosen haben diese Krise ja um einiges schlimmer durchlaufen als wir in Deutschland. Ich denke, dass vor Ort alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden. Ich bin mir aber auch sicher: Sobald es den ersten Fall im Fahrerfeld geben sollte, haben wir ein Problem. Auf der anderen Seite erinnere ich an die Fußball-Bundesliga. Da haben viele gesagt: "Wie können die nur wieder spielen." Bis auf Dynamo Dresden hat es aber keine nennenswerten Infektions-Rückschläge gegeben, und die Liga hat ihre Saison zu Ende gespielt.

prisma: Welche Rahmenbedingungen für die Zuschauer erwarten Sie bei der diesjährigen Tour?

Antwerpes: Ich denke, dass man die Zahlen für Ziel- und Starträume deutlich beschränken wird. Gerade beim Auftakt in Nizza wären ohne Corona wohl einige tausend Fans zusammengekommen. Dann wird man nicht mehr zulassen, dass die Leute drei Tage vorher auf den Berg fahren, um dort zu campen. Dass aber Menschen in kleinen Dörfern an der Straße sitzen, wenn die Tour durchfährt, das wird trotzdem stattfinden, glaube ich. Gerade weil die Franzosen durch die Coronakrise so leidgeprüft sind, werden sie womöglich auch eigenverantwortlich handeln. Die Menschen wissen, was auf dem Spiel stehen kann, nämlich ein zweiter Lockdown oder auch wieder mehr Tote.

prisma: Welche Veränderungen erwarten Sie in ihrer Arbeit als Journalist?

Antwerpes: Wir haben für unser ARD-Team in den letzten Jahren einen gewissen Standard entwickelt, von dem wir uns in diesem Jahr leider verabschieden müssen. In der Technikzone, in der alle Übertragungswagen der internationalen Sender stehen, haben wir jeden Tag unser eigenes kleines Buffet aufgebaut: Baguette, Obst und Käse. Das wird es dieses Jahr nicht geben. Es werden überhaupt viel weniger Journalisten und Techniker dabei sein – die Amerikaner zum Beispiel kommen gar nicht nach Europa. Auch wir haben die Personenanzahl reduziert und arbeiten nach einem Hygienekonzept. Es gibt deutliche Veränderungen, die sind nicht spaßig, und die macht keiner gern, aber wir werden die Letzten sein, die diese Regeln missachten.

prisma: Wann ist die Tour de France 2020 ein Erfolg?

Antwerpes: Sie ist ein Erfolg, wenn die Fahrer in Paris auf den Champs-Élysées ankommen und es keine Corona-Fälle gibt, die auf die Tour zurückzuführen sind. Wenn das gelingt, ist es ein wahnsinniges Kunststück und ein toller Erfolg – nicht nur für den Radsport, sondern auch für die Organisatoren, die sich die Austragung der Tour in diesen Zeiten zugetraut haben.

prisma: Neben der Tour de France wird mit dem Radsport nach wie vor das Thema Doping und die daraus resultierende Glaubwürdigkeitskrise in Verbindung gebracht. Wie beurteilen Sie aktuell den Ruf des Radsports?

Antwerpes: Ich will nicht behaupten, dass der Radsport mittlerweile ein Paradies ist, aber ich glaube, es hat sich im Hinblick auf den Kampf gegen Doping vieles zum Guten geändert. Das liegt auch daran, dass der Radsport von ganz unten kam. Das waren die Verrufensten von allen, und deshalb war die Dynamik der Verbesserungen auch am deutlichsten spürbar. Da hat sich mehr getan als bei Sportarten, die immer etwas unter dem Radar geflogen.

prisma: Woran denken Sie?

Antwerpes: Die Leichtathletik war oder ist vom Image besser beleumundet als der Radsport, obwohl auch dort zahlreiche Dopingfälle aktenkundig sind. Ich kann natürlich nicht garantieren, dass alle Radsportler sauber sind, aber sie sind eben auch nicht pauschal durch die Bank gedopt. Es ist heute jedenfalls besser als in den schlimmsten Zeiten unter Armstrong, Pantani oder Ullrich.

prisma: Hat es dem Sport geholfen, dass der extreme Fokus in den letzten Jahren nachgelassen hat, um von innen heraus zu gesunden?

Antwerpes: Ich glaube eher, dass es wichtig war, dass von außen Druck kam, Fälle öffentlich wurden und im Präsidium der UCI auch personelle Veränderungen vorgenommen wurden. Es herrschte ein korruptes System. Wenn man die Leute konsequent aussortiert und dazu eine neue Generation an Fahrern heranwächst, die in einem anderen Bewusstsein erzogen wurde, dann kann man der Radsport wieder auf eine positive Zukunft hoffen. In Deutschland funktioniert das nur, wenn alles sauber ist. Deutschland hat ein sehr spezielles Verhältnis zu Doping und ist da – zu Recht – sehr nachtragend. Anders als Nationen wie Italien oder Frankreich. Deshalb sind die deutschen Radsportler umso mehr gefordert, das Image eines sauberen Athleten zu prägen.

prisma: Können sich von diesem strikten Durchgreifen andere Sportarten wie der Fußball eine Scheibe abschneiden?

Antwerpes: Man kann das ganz schwer vergleichen, weil dort auch ganz andere Summen bewegt werden. Das Thema Doping im Fußball wird oft unter den Teppich gekehrt. Generell gilt: Überall dort, wo viel Geld verdient werden kann, liegt der Missbrauch nahe. Warum soll das im Sport anders sein als in anderen gesellschaftlichen Bereichen? Überall, wo es um Macht, Einfluss und Geld geht, wird betrogen. Das kann man beklagen, ist aber so. Im Fußball gibt es aber noch ganz andere Mechanismen: Korruption, finanzstarke Investoren, und die Diskussion um Gehälter und Ablösesummen. Aber ich glaube, dass manche "den Schuss gehört haben" und hoffentlich Mechanismen der Selbstreinigung einsetzen. Wenn sich am Ende der enttäuschte Fan abwendet, vor allem auch am Bildschirm, dann kann man das Totenglöckchen läuten über dieses Geschäft.

prisma: Ein Thema, das den Radsport gerade beschäftigt, ist der schlimme Sturz von Fabio Jacobsen bei der Polen-Rundfahrt. Wie haben Sie dieses Unglück wahrgenommen?

Antwerpes: Ich habe die Bilder auch nur im Netz gesehen, und das ist natürlich schlimm. Dylan Groenewegen ist bekannt dafür, dass er auf der Ziellinie kompromisslos seine Interessen durchsetzt. Trotzdem darf das nie passieren. Man muss als erfahrener Radsportler die Risiken abwägen können, wenn bei Tempo 80 nicht viel Platz ist. Da muss die Gesundheit vorgehen. Ich finde gut, dass UCI und Staatsanwaltschaft Ermittlungen eingeleitet haben, weil dieser Sturz eine Katastrophe für den Radsport ist. Natürlich gehören Stürze im normalen Renngeschehen dazu, aber das war ein regelrechter Angriff auf den Gegner, den man absolut restriktiv zurückdrängen muss.

prisma: Wem trauen Sie dieses Jahr den Sieg bei der Tour de France zu?

Antwerpes: Das ist 2020 extrem spannend, weil es ungefähr zehn Fahrer gibt, die gewinnen können. Da zähle ich durchaus auch Emanuel Buchmann dazu. Durch den vierten Platz im vergangenen Jahr sind natürlich Erwartungen an ihn geweckt worden, aber mittlerweile ist er auch selbstbewusst genug, um sich in den Kreis der Favoriten einzureihen. Ansonsten muss man natürlich Egan Bernal als Titelverteidiger im Auge haben, genauso wie Geraint Thomas. Spannend wird die Personalie Froome. Vielleicht schaffen es die Franzosen diesmal nach vorne, Pinot oder Alaphilippe. Jumbo-Visma ist bärenstark mit Roglic, Dumoulin und Kruijswijk. Was Etappensiege angeht, ist unbedingt mit dem Team Bora zu rechnen – außer Buchmann sind da ja noch Peter Sagan oder die aufstrebenden Deutschen Ackermann und Schachmann.

prisma: Sehen Sie bei den deutschen Fahrern eine Generation heranwachsen, die den Radsport hierzulande wieder populärer machen kann?

Antwerpes: Die Namen sind das eine, die Erfolge das andere, aber natürlich zählt auch die Persönlichkeit. Ein Max Schachmann ist ein sehr sympathischer Zeitgenosse, der fröhlich rüberkommt und eine tolle Ausstrahlung hat. Das fehlt Emanuel Buchmann ein wenig, der eher der Schweiger im Walde ist. Wenn der zwei Sätze nacheinander sagt, ist das schon ein Monolog. Letztlich wird man natürlich daran gemessen, was man auf dem Rad bringt und nicht vor dem Mikrofon. Aber um das Gesamtpaket eines Stars zu haben in Deutschland, braucht es traditionell mehr als den Erfolg: Charme, Charisma, Ausstrahlung.

prisma: Sie betonten einst in einem Interview, die Tour de France sei "eine Herzensangelegenheit". Was macht sie für Sie so besonders?

Antwerpes: Da hängen sehr viele Erinnerungen daran. Als ich vom ZDF zur ARD wechselte, bin ich relativ bald zur Tour de France gekommen, 1999 muss das gewesen sein. Außerdem verbinden mich sehr viele Freundschaften und menschliche Begegnungen mit der Tour und mit Frankreich. Dieses Land ist großartig! Man durchfährt ja jede Region, und sei sie noch so klein und unbekannt – dort würde man als Tourist nie hinkommen. Diese Bilder, Emotionen und Erinnerungen verbinden sich zu einem großen Ganzen, bei dem ich sage, das ist eine Herzensangelegenheit.

prisma: Abgesehen von der Tour de France waren Sie in den vergangenen Jahrzehnten bei unzähligen Großveranstaltungen unterwegs. Gibt es zwischen Olympischen Spielen und Fußball-Weltmeisterschaften Schlaglichter, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?

Antwerpes: Das ist immer eine schwierige Sache, weil nach fast 30 Jahren auch einiges verschwimmt. Für mich persönlich waren die Olympischen Winterspiele in Lillehammer 1994 die beeindruckendsten. Es waren meine ersten, und die Norweger hatten eine Traumkulisse mit zwei Wochen strahlend blauem Himmel und Schnee ohne Ende. Für mich waren es die letzten "jungfräulichen" Olympischen Spiele.

prisma: Wie meinen Sie das?

Antwerpes: Dieser kleine norwegische Ort könnte heute niemals mehr Olympische Spiele ausrichten, weil die Dimensionen mittlerweile so gewaltig geworden sind. Damals waren die Olympischen Spiele noch im besten Sinne unschuldig. Aber auch Sydney 2000 war toll, genauso wie viele Begegnungen mit Sportlern von Becker bis Hambüchen. Oder Gold für Gewichtheber Matthias Steiner 2008 – Gänsehaut! Herausgreifen will ich noch die Fußball-WM 2006 in Deutschland, bei der ich in den Stadien unterwegs sein durfte. Es hat mich begeistert, wie sich Deutschland den Leuten aus aller Welt damals präsentiert hat – so gastfreundlich und weltoffen. Dieses Image, das wir damals in die Welt hinausgetragen haben, war wirklich toll.

prisma: Die Fußball-EM soll im Gegensatz dazu nächstes Jahr in vielen verschiedenen Ländern in Europa stattfinden ...

Antwerpes: Ich halte das für keine gute Idee. Die Identifikation einer Nation mit einem sportlichen Event geht verloren. Dazu ist es vor dem heutigen Corona-Geschehen undenkbar, dass man Menschen aus aller Herren Länder durcheinander in Europa herumfliegen lässt. Ich kann mir nicht vorstellen – wenn kein Wunder passiert – dass der Plan nächstes Jahr eins zu eins umgesetzt wird.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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