Interview

Krimi-Autorin Nele Neuhaus: Weniger Blut, mehr Psychologie

13.02.2022, 15.18 Uhr
von Elisa Eberle

Nele Neuhaus ist eine der gefragtesten Krimiautorinnen Deutschlands. Zur Premiere der ZDF-Verfilmung "Muttertag – Ein Taunuskrimi" sprachen wir mit der 54-Jährigen über ihren Umgang mit Erfolg. Außerdem verrät Neuhaus, warum sie die Angst vor dem Bekannten allzu großem Blutvergießen vorzieht.

Es ist ein gar grausiger Fund, den Kommissarin Pia Sander (Annika Kuhl) im Gartenhaus eines kürzlich verstorbenen Mannes macht: Drei Frauenleichen, sorgfältig in Frischhaltefolie verpackt, wurden hier vor Jahren verscharrt. Doch warum mussten die Frauen, die keinerlei Beziehung zu dem Rentner hatten sterben? Um diese Frage dreht sich der Thriller "Muttertag – Ein Taunuskrimi" (Produktion: UFA Fiction im Auftrag des ZDF). Das ZDF zeigt den Zweiteiler am Montag, 14. Februar, und Mittwoch, 16. Februar, jeweils um 20.15 Uhr. Bereits ab Montag, 7. Februar, sind beide Teile in der ZDFmediathek verfügbar. Als Grundlage des Films diente, wie auch in den vorangegangenen acht Teilen der quotenstarken Reihe, ein Kriminalroman der Schriftstellerin Nele Neuhaus. Seit 2005 veröffentlicht die heute 54-Jährige eigene Romane: zunächst auf eigene Rechnung im Selbstverlag, seit 2008 bei Ullstein. Woraus zieht die Autorin die Inspiration für ihre zumeist düsteren Geschichten?

prisma: Das neue Jahr ist erst wenige Wochen alt. Welche Vorsätze haben Sie für 2022 gefasst?

Nele Neuhaus: Leider muss ich Sie da enttäuschen! Ich habe überhaupt keine Vorsätze gefasst, weil ich aus meinem 54 Lebensjahren weiß, dass ich sie sowieso nicht einhalte. Deswegen mache ich Vorsätze grundsätzlich nicht an einem Datum fest, da kann ich mich selbst nicht so frustrieren. (lacht)

prisma: Welche Bedeutung messen Sie Bräuchen wie Neujahr oder Muttertag allgemein bei?

Neuhaus: Es gibt schon ein paar Aberglauben, denen ich folge: Ich erwische mich zum Beispiel an Silvester immer dabei, dass ich darauf achte, dass keine Wäsche mehr auf der Leine hängt. Ich weiß gar nicht so genau, woher dieser Aberglaube kommt, aber das ist so ein Ritual, an das ich denke. Und was den Muttertag anbelangt: Ich bin selbst keine Mutter, aber wir waren vier Kinder zu Hause, und da war der Muttertag schon immer etwas Besonderes. Das war der eine Tag im Jahr, an dem man ganz lieb war und versuchte, alles wieder gutzumachen, was man sonst verbockt hatte (lacht). Insofern ist es, wenn auch kein christlicher, doch auch ein wichtiger Feiertag.

prisma: Im Kriminalroman "Muttertag" bekommt das Datum eine düstere Note: Die Ermittlerin Pia Sander und ihr Kollege Oliver Bodenstein stoßen auf eine ganze Reihe von Frauenleichen, die an jenem Tag ermordet wurden. Wo finden Sie die Ideen zu solchen Geschichten?

Neuhaus: Die Inspiration für meine Krimis begegnen mir meist im täglichen Leben. Die Grundidee für "Muttertag" war zum Beispiel ein ganz schrecklicher Fall, der bei uns im Nachbarort stattfand: Dort starb ein Mann mit Mitte 70. Er war ein unbescholtener Bürger mit Familie, der in vielen Vereinen war. Als die Tochter und der Schwiegersohn die Garage ausräumten, stießen sie auf ein Fass mit Leichenteilen. Die Kripo stellte fest, dass der Mann ein mutmaßlicher Serienmörder war, der über Jahrzehnte hinweg ein perfektes Doppelleben geführt und Prostituierte ermordet hatte. Ich wollte nicht diesen Fall aufgreifen, aber mich faszinierte die Frage: Wie ist es diesem Mann gelungen, über so eine lange Zeit ein so perfektes Doppelleben zu führen? Das war die Ur-Idee für die Geschichte von Muttertag.

prisma: Handelt es sich immer um Zufallsfunde, die Sie inspirieren, oder begeben Sie sich auch mal gezielt auf die Suche nach Geschichten?

Neuhaus: Nein, ich suche nicht gezielt. Mir ist es öfter schon passiert, dass ich gar nicht unbedingt vorhatte, eine Geschichte zu schreiben, dann aber auf irgendetwas stieß: Vor vielen Jahren war es eine Fernsehdokumentation über ein Massaker der Roten Armee in Ostpreußen 1944. Daraus entstand mein dritter Taunus-Krimi "Tiefe Wunden".

Das Gefühl, es könnte echt gewesen sein

prisma: In Ihren Romanen stehen meist zwischenmenschliche Dramen im Zentrum, wohingegen große Verschwörungen, wie etwa aus der Politik, selten vorkommen. Was fasziniert Sie an dieser Art Erzählung?

Neuhaus: Es ist die Psychologie der Menschen, die ich wichtig finde: Ich bin keine, die superblutige oder politische Thriller schreibt. Mir geht es vielmehr darum, dass der Leser und die Leserin denken: "Hey, das könnte mein Nachbar sein!" Ich persönlich bin der Meinung, dass das besonders berührt. Meine Taunus-Krimis spielen auch an real existierenden Orten, und von vielen Leserinnen und Lesern hier aus der Gegend weiß ich, dass sie nicht mehr unberührt durch die Gegend fahren: Es gibt dann eben die Fußgängerbrücke, von der in "Schneewittchen muss sterben" eine Frau auf die Straße gestoßen wurde. Oder es gibt den Leichenfund im Wald, über den mir die Leute schreiben: "Oh mein Gott, ich geh da nicht mehr lang, schon gar nicht abends!" Das ist genau das, was ich erreichen möchte: Dass man das Gefühl hat, es könnte echt gewesen sein. Dann gewinnen die Geschichte und die Probleme der Figuren Tiefe und Intensität.

prisma: Ihre Romane spielen fast ausschließlich im Taunus. "Muttertag" jedoch unternimmt auch einen Abstecher nach München. Könnten Sie sich vorstellen, Ihre Heimat in künftigen Romanen häufiger zu verlassen?

Neuhaus: Die eigentliche Geschichte des Buchs spielt komplett im Taunus. Dass auch in München gedreht wurde, war in der Tat Corona geschuldet: Die Pandemie machte es unmöglich, die große Crew hier in einem Hotel unterzubringen. Allerdings wurde auch im Taunus sehr viel gedreht, sodass der Zuschauer den Eindruck gewinnen wird, dass alles hier in meiner Heimatregion spielt.

prisma: In Ihren Romanen werden Sie dem Taunus also treu bleiben?

Neuhaus: Ja, dort kenne ich mich einfach am besten aus. Wobei mein aktuelles Buch "In ewiger Freundschaft" auch teilweise in Frankfurt spielt. Das ist nicht weit entfernt. Die einzigartige Skyline sieht man von jedem Blickwinkel aus dem Vordertaunus. Im neuen Buch dürfen meine Figuren dorthin und einen Ausflug nach Frankreich machen. Ich klammere mich nicht komplett am Taunus fest, aber ich denke, der Taunus-Krimi sollte auch immer ein bisschen was mit der Gegend zu tun haben.

prisma: Nehmen wir an, Sie haben eine neue Inspirationsquelle gefunden: Wie geht die Arbeit an dem Roman danach weiter?

Neuhaus: Zuerst ist es kein Schreiben, sondern ein Nachdenken: Was mache ich daraus? Es ist nicht so, dass ich am Schreibtisch sitze und mir den Kopf zerbreche, sondern es arbeitet einfach in meinem Hinterkopf. Natürlich habe ich meistens eine ungefähre Idee, was ich erzählen möchte. Bei "Muttertag" geht es zum Beispiel um einen Serientäter, der über Jahrzehnte hinweg unerkannt mordete. Weil ich, wie gesagt, nicht unbedingt ausgeweidete oder verstümmelte Leichen in meinen Krimis haben will, stellte ich mir die Frage: Wie mache ich das, dass die Polizei darauf stößt, dass er ein Serientäter ist? Als ich eines Tages das Schulbrot für meine Tochter schmierte und es in Frischhaltefolie einschlug, wickelte ich aus Versehen meine Finger darin ein. Ich stellte fest: Hey, wow, da komme ich ja von selbst nicht mehr raus! Und so war die Idee der Leichenentsorgung geboren.

prisma: Und wann beginnt das Schreiben?

Neuhaus: Wenn ich den Punkt erreicht habe, dass ich zwei, drei Ideen habe, woraus ich meinen Plot schmieden kann, setze ich mich hin und denke mir die Figuren und die Orte aus. Oft werde ich inspiriert, wenn ich mit meinem Hund spazierengehe, ein Haus oder eine besondere Stelle sehe, an der ich mir denke: Das könnte wirklich spektakulär sein! Mittlerweile habe ich dabei auch immer die filmische Umsetzung im Hinterkopf. Sobald ich dann vier bis fünf Monate lang an einer Geschichte herumgedacht und einen Szenenplan entworfen habe, fange ich an zu schreiben. Dabei kann es passieren, dass sich die Figuren noch ein bisschen entwickeln, oder dass ich selbst etwas erlebe, was ich als kleine Anekdote einfließen lasse. Das lasse ich gerne zu, denn dadurch ist es ein sehr lebendiges Arbeiten.

"Ich recherchiere wahnsinnig gerne"

prisma: Wie lange dauert es insgesamt, bis ein Roman abgeschlossen ist?

Neuhaus: Für einen Krimi brauche ich ungefähr ein Jahr. Deswegen muss das Kernthema auch immer eines sein, das mich wirklich fasziniert. Ich recherchiere wahnsinnig gerne und lese viele Bücher, sodass selbst der Fachmann, wenn er den Krimi liest, sagt: "Okay, es ist nicht ganz wie in der Realität, aber sie hat wenigstens sorgfältig recherchiert!"

prisma: Macht das etwas mit Ihnen, wenn Sie sich ein Jahr lang mit einer derart düsteren Geschichte beschäftigen?

Neuhaus: Ich denke, es geht mir ähnlich wie Ärzten oder Polizisten: Ich wahre eine innere Distanz, zu dem, was ich schreibe. Andernfalls würde mich das zu sehr mitnehmen. Die Verfilmung von "Muttertag" durfte ich vorab sehen, und ich war regelrecht schockiert von dem, was ich mir habe einfallen lassen. (lacht) Davor dachte ich: Na gut, das sind meine Krimis und meine Fantasie. Aber als ich meine Figuren dann wirklich in Fleisch und Blut auf dem Bildschirm sah, nahm mich das schon sehr mit.

prisma: Viele Ihrer Romane standen an der Spitze der Spiegel-Bestseller-Liste, und auch die Verfilmungen erreichten allesamt tolle Quoten. Wie gehen Sie mit dem Erwartungsdruck um?

Neuhaus: Auch das ist etwas, was ich mittlerweile ein bisschen von mir wegschiebe. Ich kann mich noch gut an meinen unerwarteten Durchbruch mit "Schneewittchen muss sterben" 2010 erinnern: Das nachfolgende Buch "Wer Wind sät" war wirklich schwierig, weil ich den Umgang mit all den Erwartungen noch nicht gelernt hatte. Aber es wurde von Buch zu Buch leichter. Jetzt geht es mir vor allem darum, eine Geschichte zu schreiben, die mir gefällt, die mich fesselt. Denn ich glaube, mein Geschmack ist der Geschmack von vielen Leserinnen und Lesern. Das hat sich durch "In ewiger Freundschaft", welches aktuell an der Spitze der Spiegel-Bestseller-Liste steht, wieder bewiesen. Darauf bin ich sehr, sehr stolz, weil ich große Namen wie Jussi Adler-Olsen, Ken Follet oder Sebastian Fitzek hinter mir lasse.

prisma: Was genau fasziniert so viele Menschen an Ihren Romanen?

Neuhaus: Ich glaube, die Menschen mögen meine Geschichten, weil sie berühren, weil sie die Menschen mitnehmen und zum Nachdenken anregen. Ich versuche mir auch immer ein Thema auszusuchen, das kontrovers diskutiert wird: Ob es jetzt die Windkraftanlage in "Wer Wind sät" oder die Organspende in "Die Lebenden und die Toten" ist. Gleichzeitig gibt es immer eine Gelegenheit zum Schmunzeln. Bei mir lässt man sich auf Geschichten ein, die gut unterhalten. Das ist mein Anspruch an mich selbst: Wenn jemand ein Nele-Neuhaus-Buch aufschlägt, soll er von vorneherein wissen: "So, jetzt kann ich mal aus dem Alltag abtauchen und kann das genießen." Den Ruf habe ich mir über die letzten 15 Jahre erarbeitet und enttäusche meine Leserinnen und Leser im Allgemeinen auch nicht.

prisma: Sie sagten, Sie haben den Film schon gesehen: Wie viel durften Sie bei dessen Entstehung mitsprechen?

Neuhaus: Der Produzent und die Producerin haben mich eng eingebunden: Ich durfte bei der Drehbuchentwicklung ein Wörtchen mitreden, ich durfte an den Dialogen ein bisschen mitschreiben. Es ist nie ganz einfach für einen Autor, weil man sich von sehr vielem verabschieden muss. Wenn man dem Roman ganz gerecht werden möchte, müsste es wahrscheinlich eine Serie werden. Das habe ich mittlerweile aber gelernt und kann akzeptieren, dass die Geschichte irgendwann nicht mehr meine ist, sondern die Sache des Filmproduzenten und des Regisseurs. Auf dieser Basis hat es sehr gut geklappt.

prisma: Ist es auf Ihr Mitsprachrecht zurückzuführen, dass die Romane seit "Böser Wolf" im Jahr 2016 als Zweiteiler verfilmt werden?

Neuhaus: Irgendwann hat auch das ZDF gemerkt, dass man dem gewaltigen Stoff und der Personenmenge meiner Bücher mit einem 90-Minüter nicht mehr gerecht wird. Ich habe damals sehr dafür gekämpft, dass an authentischen Schauplätzen hier im Taunus gedreht wird. Der Erfolg gibt der Sache Recht: Die Zuschauer sind wirklich begeistert.

TV-Auftritt als Komparsin

prisma: Aufmerksame Zuschauerinnen und Zuschauer werden Sie in "Muttertag" als Komparsin entdecken. Wie fühlt es sich an, Teil der eigens erdachten Welt zu werden?

Neuhaus: Unfassbar! Wir Schriftsteller sind ja doch Einzeltäter. Wir sitzen allein an unserem Schreibtisch und schreiben. Als ich ans Filmset kam und 60, 70 Leute rumwuseln sah, war ich vollkommen ergriffen und demütig. Allein dieser Aufwand, die Kulissen herzustellen! Ich war wirklich stolz und glücklich, dass ich mitspielen durfte. Zumal der Produzent und der Regisseur sich etwas ganz Nettes ausgedacht haben: Ich stehe in dem Film vor der Buchhandlung in Königstein, in der ich drei wichtige Dinge erlebt habe: Ich bin in Königstein zur Schule gegangen, das heißt das war die Buchhandlung, in der ich früher eingekauft habe. Dann hat der Buchhändler 2008 das Buch "Mordsfreunde", welches ich im Selbstverlag verlegte, an eine Vertreterin des Ullstein-Verlags gegeben. So kam ich zum Verlag. Und ich habe 2011 genau dort meinen jetzigen Mann kennengelernt!

prisma: Wird es künftig öfters Auftritte von Ihnen im Taunus-Krimi geben?

Neuhaus: Ich hatte mit dem Produzenten darüber gesprochen: "Bitte nie mehr als einen Cameo-Auftritt, weil ich jetzt nicht großartig reden möchte!" Mein Mann spielte einmal in "Wer Wind sät" mit. Bei einem Casting bekam er eine Minirolle als Polizeipsychologe und durfte vier Sätze sagen. Das wäre nichts für mich! Aber im Hintergrund stehen und gucken, finde ich toll.

prisma: Ihr aktueller Roman "In ewiger Freundschaft" spielt im Verlagswesen. Könnten Sie sich in Zukunft auch ein Mord am Filmset vorstellen?

Neuhaus: Warum nicht? Ich habe vor, noch ein paar Krimis zu schreiben, und die Filmwelt ist auch eine Welt, die die Leserinnen und Leser interessieren könnte. Ich glaube, dass es hier ähnlich wie im Verlagswesen für mich als Krimiautorin ein so breites Betätigungsfeld gibt, dass ich das nicht aus den Augen verlieren werde. Aber im Moment ruhe ich mich erst einmal auf meinen Lorbeeren aus, ehe ich mich bald neuen Projekten, darunter dem achten Band einer meiner beiden Jugendbuchreihen, widme.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

Das könnte Sie auch interessieren