Moderator im Interview

Gianni Jovanovic über die Herausforderungen eines queeren Sohnes einer Roma-Familie

06.09.2023, 17.01 Uhr
von Marina Birner

Im Alter von 14 Jahren wurde Gianni Jovanovic zwangsverheiratet. Als queerer Ehemann einer Frau sah er sich gezwungen, mit familiären Konventionen zu brechen. Im Interview spricht der "Drag Race Germany"-Moderator offen über Traumata, Diskriminierung, Familie und Forderungen an die Gesellschaft.

"Strukturelle und historische Ausgrenzung, Rassismus, Verfolgung und Degradierung" – damit musste Gianni Jovanovic (45) vor allem als Kind einer Roma-Familie täglich kämpfen. Bis heute sieht sich der Unternehmer mit Diskriminierung im Alltag konfrontiert. Schließlich hat er als homosexueller Mann mit Mitte 20 mit den althergebrachten Konventionen seiner Kultur gebrochen – trotz Ehefrau und zwei Kindern. Im Interview spricht der LGBTQIA+-Aktivist offen über Vorurteile. Woher nahm er den Mut, seine bewegende Geschichte in all ihren Facetten mit der Öffentlichkeit zu teilen? Sein Buch "Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit", das der gebürtige Hesse zusammen mit der Co-Autorin und Journalistin Oyindamola Alashe geschrieben hat, lässt jedenfalls kein Detail aus. Trotz der vielen Traumata, die Jovanovic erleben musste, zeigt er nicht nur schonungslos ehrlich die negativen Seiten der Gesellschaft auf, sondern blickt auch auf Jahre des Wandels zurück – und in die Zukunft. Denn es gebe noch viel zu tun, betont der Wahlberliner und -kölner im Gespräch. "Drag Race Germany", das er ab Dienstag, 5. September, bei Paramount+ an der Seite von Dragqueen Barbie Breakout moderiert, sei ein guter Anfang, um das Thema Travestie, Diversität und Drag hierzulande weiter voranzubringen. Was sich Jovanovic für die Zukunft wünscht und wie er das Erlebte verarbeiten konnte ...

prisma: Herr Jovanovic, fangen wir ganz von vorne an: Sie waren mit 14 Jahren fast noch ein Kind, als Sie geheiratet haben ...

Gianni Jovanovic: Als ich verheiratet wurde! Das war in meiner sehr konservativen Familie obligatorisch. Das ist nicht repräsentativ für unsere Herkunft und Kultur, aber wir müssen uns daran erinnern, was mein Volk, was meine Eltern durchgemacht haben. Es ist klar, dass strukturelle und historische Ausgrenzung, Rassismus, Verfolgung und Degradierung – vor allem im Bildungssystem – eine entscheidende Rolle spielten. Meine Eltern haben diese – nennen wir es Tradition – durchgestanden und übernommen, um für sich selbst Ressourcen zu schaffen. Viele Kinder können einen im Alter eben unterstützen.

prisma: Etwas, das sich in Deutschland heute kaum einer vorstellen kann!

Gianni Jovanovic: Ja. Aber im damaligen Deutschland hatten meine Eltern das Problem, dass sie ums Überleben kämpfen mussten. Sie hatten keine andere Wahl, als diese Tradition fortzusetzen.

prisma: Wie war das für Sie?

Gianni Jovanovic: Für mich war das natürlich eine totale Katastrophe. Mit 14 Jahren war das der Gipfel der Fremdbestimmung. Das war physischer und psychischer Missbrauch. Und um sich davon zu erholen, braucht es viel Therapie und Selbstliebe – und vor allem Drag (schmunzelt). Für mich ist das eine Art Überlebensstrategie, um all die heteronormativen Erwartungen, die auf mir lasteten, zu überwinden und zu sprengen.

Gianni Jovanovic über einen Meilenstein in seinem Leben: "Mein Coming-out war wie eine Geburt"

prisma: Woher nahmen Sie den Mut, diese von der Familie gesetzten Grenzen zu sprengen?

Gianni Jovanovic: Irgendwann wurde mir klar, dass ich krank werde, wenn ich so weiterlebe. Außerdem wollte ich meinen beiden Kindern ein guter Vater sein. Ich wollte sie nicht belügen. Der Mut wuchs in mir, als ich Vater wurde. Ich wollte meinen Kindern, sollten sie queer sein, dieses Horrorszenario ersparen. Es war mir wichtig, mich zusammenzureißen und zu sagen: Wenn es darum geht, für dich und auch für deine Kinder eine gesunde Basis zu schaffen, dann ist es jetzt an der Zeit, die Wahrheit zu sagen – auch wenn sie allen sehr weh tut.

prisma: Eine Wahrheit, die Ihnen zu einem neuen Leben verholfen hat ...

Gianni Jovanovic: So ist es. Mein Coming-out war wie eine Geburt. Ohne diesen wichtigen Schritt wäre ich nicht der, der ich heute bin. Ich gab mir selbst die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Und vor allem, meinen Kindern ein Vorbild zu sein. Das alles passierte, als ich meinen Mann kennenlernte, mit dem ich jetzt seit 20 Jahren zusammen bin. Ich war etwa 23 Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt trennte ich mich auch räumlich endgültig von meiner Frau.

prisma: Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Familie und vor allem natürlich zu Ihrer Tochter und Ihrem Sohn heute?

Gianni Jovanovic: Das Verhältnis zu meinen Kindern ist Gott sei Dank sehr gut. Da der Altersunterschied zwischen meinen Kindern und mir vergleichsweise eher gering ist, kann ich sie in vielen Lebenssituationen viel besser verstehen und ihre Befindlichkeiten erkennen. Zur Mutter meiner Kinder habe ich ein gutes Verhältnis, in das wir beide ständig viel Arbeit investieren. Für uns beide heißt es oft: zurückstecken. Aber letztlich fanden wir eine Basis für einen liebevollen und respektvollen Umgang. Schließlich haben wir nicht nur Kinder, sondern auch schon drei Enkelkinder. Ja, ich bin Opa!

prisma: Sie tragen also viel Verantwortung für eine große Familie.

Gianni Jovanovic: Ja, das heißt einfach, dass ich manchmal meine eigenen Befindlichkeiten zurückstellen muss, weil die Kinder im Vordergrund stehen. Das kann auch heilsam sein.

"Meine größte Stärke sind einfach Emotionen"

prisma: Woher nahmen Sie den Mut, Ihre bewegende Geschichte mit der Öffentlichkeit zu teilen?

Gianni Jovanovic: Ganz einfach: Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Freundinnen und Freunde, die nicht weiß sind, erzählen mir Dinge ... Ich denke mir nur: Warum redet ihr nicht darüber? Die wenigsten in unserer Gesellschaft wissen beispielsweise, dass etwa 500.000 Sinti und Roma im Holocaust ermordet wurden. Weder die Weißen noch die Menschen aus meiner Community – das kann doch nicht sein. Also war Selbststudium angesagt. Ich möchte etwas bewegen. Deshalb war es mir wichtig, diese Geschichte zu erzählen, so schmerzhaft sie auch war. Meine größte Stärke sind einfach Emotionen.

prisma: Wen wollen Sie damit erreichen?

Gianni Jovanovic: Alle Menschen, die bereit sind, etwas zu lernen, etwas zu erkennen – sich Veränderungsprozessen zu stellen. Menschen, die keine Worte für ihre eigenen Traumata finden. Menschen, die in der gleichen Situation sind wie ich. Ich möchte Menschen erreichen, die erreicht werden wollen. Menschen, die noch nicht erkannt haben, dass sie nicht nur Opfer ihrer Traumata sind, sondern dass sie sich selbst ermächtigen können. Und alle anderen natürlich auch (lacht).

"Die Welt braucht die Geschichten hinter jeder einzelnen Drag Queen"

prisma: Menschen zu erreichen, ist auch die Intention hinter der Show "Drag Race Germany": Die deutsche Version der in den letzten Jahren mit TV-Preisen überschütteten Realityshow "RuPaul's Drag Race" war bereits lange in Planung: Vor zehn Jahren gab es erste Anläufe – woran scheiterte das Projekt?

Gianni Jovanovic: Ich kann mir gut vorstellen, dass die Queens, die Drag als Kunstform betrieben, damals vielleicht noch nicht alt genug waren (lacht). Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass der Begriff Travestie noch keine große Rolle gespielt hat: Den Hype um "Drag Race America" bekam hierzulande einfach niemand mit. Scheinbar glaubte man damals in Deutschland noch nicht an dieses Format ...

prisma: Und heute?

Gianni Jovanovic: Heute, im Jahr 2023, ist auf jeden Fall der richtige Zeitpunkt dafür: Was lange kocht, wird irgendwann gar (lacht). Ich hoffe nur, dass es dem Publikum schmeckt. Ich bin sehr stolz auf das Format, auf die Qualität der Queens und auch auf die Ernsthaftigkeit der Geschichten, die dort erzählt werden. Sie sind sehr authentisch, sehr nah und einfach super unterhaltsam. Das Format wagt eben einen Blick hinter die bunten Kulissen der Queens.

prisma: Es war also längst überfällig, dass so ein Format auch den Weg nach Deutschland findet?

Gianni Jovanovic: Ich glaube, dass Drag eine Form von Empowerment mit sich bringt und dass die Popkultur bereit ist, dieses Phänomen zu feiern. Es war höchste Zeit, dass das Thema im Mainstream ankommt und aus der Nische herauskommt. Natürlich geht es um Vielfalt, es geht um Einzigartigkeit, es geht um Liebe – eine Ode an die Kunstform Drag. Die Welt braucht die Geschichten hinter jeder einzelnen Drag Queen. Deshalb ist es wichtig, dass wir Drag Queens anerkannt, sichtbar und akzeptiert werden.

"Jeder Mensch kann eine Drag Queen sein"

prisma: "Wir" Dragqueens?

Gianni Jovanovic: Als ich jünger war, habe ich Drag gemacht. Aber das ist lange her. Ich war damals schon verheiratet und noch nicht geoutet.

prisma: Mussten Sie Ihr Drag-Ich heimlich ausleben?

Gianni Jovanovic: Damals: Ja. In Köln gab es verschiedene Clubs und Lokale, in denen ich meine Drag-Familie gefunden habe. Ich wurde aufgenommen und akzeptiert, so wie ich war. Das war schon eine aufregende Zeit Anfang der 90er-Jahre.

prisma: Eine Flucht aus einem Leben, das sie so nicht leben wollten?

Gianni Jovanovic: Ja, ich konnte Drag nur in einem geschützten Raum leben, um meine eigene Freiheit zu feiern. So erging es vielen anderen. Mit "Drag Race Germany" sehen die Zuschauerinnen und Zuschauer nun den Schmerz, den viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in ihrem Leben ertragen mussten, zum Beispiel durch Diskriminierung und Ausgrenzung. Aber sie machen aus ihren Traumata etwas Großartiges und Positives – so können sie anderen helfen und andere inspirieren.

prisma: Gibt es heute mehr Verständnis für das, was Drag-Sein eigentlich wirklich ist, als vor zehn Jahren?

Gianni Jovanovic: Auf jeden Fall. Und gleichzeitig hat die Szene zu einem neuen Selbstbewusstsein gefunden. Für mich und viele andere kennt Drag kein Geschlecht, keine Herkunft. Drag hat keine Erwartungen an den Künstler oder die Künstlerin. Jeder Mensch kann eine Drag Queen sein. Der Ursprung dieser Kunstform liegt aber in der LGBTQAI+ Community. Wir nutzen sie als Symbol für den Widerstand – auch für die Selbstermächtigung, die wir uns immer wieder neu erkämpfen müssen. Das Wir-Gefühl ist uns sehr wichtig.

Gianni Jovanovic über Mann-Frau-Verhältnisse

prisma: Wie war Ihr Coming-out für Sie?

Gianni Jovanovic: Gehen wir ein wenig zurück ... Ich war immer ein offensichtlich queeres Kind, würde ich sagen – ein Kind, das nie wirklich als männlich wahrgenommen wurde, was Aussehen und Verhalten betrifft. Aber meine Großmutter hat mich immer sehr unterstützt und sich nie wirklich Gedanken über mein Geschlecht gemacht: Bis ich in die Schule kam, trug ich ihre selbstgenähten Kleider. Es war einfach nicht definierbar, ob Gianni ein Junge oder ein Mädchen war. Ein Kind kann alles sein. Das ist eine sehr gesunde Haltung. Meine Großmutter sah mich einfach nur als Kind. Und ihr erstes Enkelkind durfte sowieso alles (lacht).

prisma: Wann hat sich das Blatt gewendet?

Gianni Jovanovic: Ich war ungefähr 18 Jahre alt, als ich die ersten Male in Clubs und mit anderen schwulen Männern feierte. Da fühlte ich mich zum ersten Mal wirklich homosexuell. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits verheiratet und hatte zwei Kinder. Ich war gezwungen, ein Doppelleben zu führen. In meiner Familie gibt es ein ganz klares Mann-Frau-Verhältnis. Letztendlich musste ich mich dieser Struktur fügen ... Das habe ich auch viele Jahre gemacht – bis es nicht mehr ging.

"In vermeintlicher Schwäche steckt viel Potenzial"

prisma: Musik hilft doch durch so manche Krise – was hat es Ihnen bedeutet, in Celina Bostics Musikvideo zu "Die Resilienz" mitzuwirken?

Gianni Jovanovic: Das war eine große Ehre. Ich habe sofort zugesagt. Schließlich verbindet uns eine sehr tiefe Freundschaft. Daraus schöpfe ich viel Kraft und ich lerne viel von Celina. Das gilt übrigens auch umgekehrt (schmunzelt). Unser Miteinander ist sehr solidarisch. "Die Resilienz" ist ein Lied, in dem es auch um Teilhabe und Widerstand geht. Wir als Minderheit wollen zeigen, dass wir da sind.

prisma: Und dass Sie auch ein Stück vom Kuchen abhaben wollen?

Gianni Jovanovic: Nein. Wir wollen ein ganzes Blech Baklava. Warum Baklava? Weil man das besser teilen kann. Für jeden bleibt etwas übrig und ist gleichzeitig doch ein Ganzes. Wir wollen nicht betteln müssen. Widerstand, Selbstermächtigung, Resilienz und Kohärenz – das sind alles Begriffe, mit denen ich mich tagtäglich beschäftige.

prisma: Gibt es Momente, in denen Sie zweifeln und Schwäche zulassen?

Gianni Jovanovic: Natürlich: Dass ich zweifle, ist sogar meine größte Stärke. Ich glaube, wir sollten uns nicht vormachen, dass es ein perfektes Leben gibt, in dem wir alle ohne Herausforderungen und Traumata leben. In vermeintlicher Schwäche steckt viel Potenzial. Wir müssen sie nur kanalisieren, um etwas Gutes zu schaffen. Leider haben wir das als Gesellschaft nicht gelernt. Ich finde, die menschlichsten Momente sind die, in denen wir nicht mehr können. Dann spüren wir unsere Grenzen und setzen sie auch anderen. "Stopp" zu sagen, das ist sehr wichtig. Gerade wenn es darum geht, die Würde von Menschen zu schützen.

Gianni Jovanovic fordert einen Strukturwandel – überall

prisma: Das Stigma, Männer müssen immer den Starken spielen, ist seit jeher fest in unserem Denken verankert. Welche Veränderungen konnten Sie auf dieses Thema bezogen in den vergangenen Jahren in der Gesellschaft feststellen?

Gianni Jovanovic: Zum Glück gibt es derzeit in allen Lebensbereichen Umbrüche: Die Menschen gehen in den Diskurs. Männlichkeitsbilder sind im Wandel und nicht mehr so festgefahren wie früher. Das ist eine Herausforderung für viele Menschen, die an der Vormachtstellung von Männern und klassischen Rollenbildern festhalten. Dass wir über Männlichkeit und Macht diskutieren und auch streiten, hat natürlich auch Auswirkungen auf benachteiligte Gruppen. Auch sie diskutieren untereinander, müssen aber gerade mit Männern anstrengende Machtkämpfe führen. Ich spreche von der queeren Community, von alten Menschen oder Menschen mit Behinderungen, von Frauen, von Sinti und Roma, von Jüdinnen und Juden, von Migrantinnen und Migranten, von Schwarzen Menschen. Eine große Zahl Menschen, die ich ungern als Minderheiten bezeichne. Ich spreche lieber von kleinen Mehrheiten, so wie in meinem Buch "Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit".

prisma: Was genau meinen Sie damit?

Gianni Jovanovic: Ich mochte das Wort Minderheit nie, weil es irgendwie abwertet und nicht berücksichtigt, wie viele Menschen damit tatsächlich gemeint sind. An den entscheidenden Prozessen sind sie trotzdem meist nicht beteiligt. Stattdessen bestimmen in der Regel weiße, heterosexuelle Cis-Männer, wo es in unserer Gesellschaft langgeht. Kleine Mehrheiten werden meist ausgeschlossen. Wir leben in einer Zeit von Kriegen, Klimakatastrophen und einem Rechtsruck. Wenn wir etwas positiv verändern wollen, brauchen wir auch Perspektiven von und für alle Minderheiten. Das heißt im Umkehrschluss, dass Leute, die jahrhundertelang die Zügel in der Hand hatten, ihre Macht künftig teilen müssen.

prisma: Was wünschen Sie sich also für die Zukunft?

Gianni Jovanovic: Einen Strukturwandel. Es kann nicht länger sein, dass eine kleine Männergruppe über die Perspektive von Millionen Menschen in diesem Land entscheidet. Ich möchte, dass in allen Lebensbereichen die Vielfalt unserer Gesellschaft abgebildet wird. In der Politik, in der Bildung oder in den Führungsetagen der Arbeitswelt – überall.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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