Dr. Leon Windscheid im Interview: "Man kann viel von Menschen mit psychischen Erkrankungen lernen"
2015 nahm Leon Windscheid an "Wer wird Millionär?" teil. Seitdem steht der Psychologe in der Öffentlichkeit. Nun wird der ehemalige Quiz-Kandidat als neuer Moderator für "Terra Xplore" vor der Kamera stehen. Im Interview erklärt Leon Windscheid, warum er in Günther Jauchs Sendung mitgemacht hat und was man alles von psychisch erkrankten Menschen lernen kann.
"Aus insgesamt wie vielen Steinchen besteht der klassische von Ernö Rubik erfundene Zauberwürfel?" – Diese durchaus knifflige Millionenfrage stellte Günther Jauch seinem "Wer wird Millionär?"-Kandidaten Leon Windscheid am 7. Dezember 2015. Richtig war Antwort C, 26 – ein Volltreffer für den damaligen Doktoranden. Danach folgte eine medienwirksame Karriere: Dr. Windscheid war Gast in mehreren Sendungen, schrieb Bücher, trat mit einem Bühnenprogramm auf und produzierte mehrere Podcasts, einen davon gemeinsam mit dem Comedian Atze Schröder. Nun tourt der Psychologe mit seinem zweiten Bühnenprogramm ("Gute Gefühle") durch Deutschland – und steht gemeinsam mit der Biologin Jasmina Neudecker als neuer Moderator des ZDF-Wissenschaftsformats "Terra Xplore" (zu sehen ab 16. April, 18.30 Uhr, im ZDF, sowie bereits vorab in der ZDFmediathek) vor der Kamera. Im Interview erklärt der 34-Jährige, was die Sendung so besonders macht.
prisma: Die neue "Terra Xplore"-Reihe trägt den Titel "Weißt du, wer du bist?" – Wissen Sie, wer Sie sind, Herr Windscheid?
Leon Windscheid: (lacht) Darauf hätten wir wohl alle gerne eine klare Antwort. Ich denke aber, dass man sich diese Frage ein Leben lang stellen kann. Ich kann vielleicht beantworten, wer ich jetzt gerade bin – für welche Werte ich stehe, woran ich gerade arbeite, welche Ziele ich habe. Das kann sich aber im Laufe des Lebens noch ändern. Zum Glück: Wir stehen permanent vor neuen Herausforderungen, deshalb ist es wichtig, dass wir in der Lage sind, uns anzupassen.
prisma: Bei einem Experiment in der Sendung geben Sie an, mit sich selbst im Reinen zu sein. War das schon immer so?
Windscheid: Nein, in dem Moment hat es aber gestimmt. Grundsätzlich würde ich auch nach wie vor behaupten, mit mir im Reinen zu sein. Es gibt aber auch ganz viele Momente, in denen ich das wieder anzweifle (lacht).
prisma: Wie gelingt es, an diesen Punkt zu kommen?
Windscheid: Ich weiß, dass ich früher noch deutlich mehr im gesellschaftlichen Hamsterrad gefangen war. Für mich ist ein zentraler Punkt, dass ich hinterfrage, was ich emotional erlebe. Ein Bewusstsein für die eigenen Gefühle zu entwickeln, hilft enorm – bei vielen Dingen.
"An 'Wer wird Millionär?' habe ich nicht teilgenommen, um berühmt zu werden"
prisma: Apropos Hamsterrad: Sie selbst dürften als Unternehmer, Podcaster, Buchautor und nun auch "Terra Xplore"-Moderator wohl durchaus einen vollen Terminkalender haben. Überfordert Sie das manchmal?
Windscheid: Klar: Ich arbeite viel und mit Leidenschaft, aber damit bin ich überhaupt nicht alleine. Das geht den Pflegenden in diesem Land so, den Tischlerinnen und Tischlern und auch den Menschen in Managerpositionen. Wenn man etwas tut, für das man brennt, ist ein Ausgleich wichtig – ansonsten brennt man aus. Wenn ich also an einem Tag richtig Gas gegeben habe, zum Beispiel indem ich eine Podcastfolge aufgenommen, einige Interviews gegeben und dann noch etwas recherchiert habe, muss ich danach gegensteuern.
prisma: Wie darf man sich das vorstellen?
Windscheid: Ein solcher Ausgleich kann ein Abend mit den Jungs sein, ein Ausflug in die Natur oder auch ein entspannendes Hörbuch. Wichtig ist eben, sich auch für solche Dinge Zeit zu nehmen.
prisma: War es schon immer Ihr Ziel, eines Tages vor der Kamera zu stehen?
Windschied: Überhaupt nicht. Wenn Sie sich einen handelsüblichen Windscheid ansehen, werden Sie merken, dass das eigentlich nicht in unserer Natur liegt. An "Wer wird Millionär?" habe ich nicht teilgenommen, um berühmt zu werden. Ich wollte einfach nur die Kohle haben (lacht). Irgendwie kam ich aber gut an. Die Leute wollen mehr über Psychologie erfahren und wenn ich ihnen etwas vermitteln kann, freue ich mich. Die Menschen hatten Spaß daran, ich hatte Spaß daran – also dachte ich mir: Warum nicht?
prisma: Woher kommt Ihr Interesse für die Psychologie?
Windscheid: Ich war schon immer ein naturwissenschaftlich getriebener Mensch, der wissen wollte, wie die Dinge eigentlich funktionieren. Das ist auch heute noch so. Psychologie deckt das ganz gut ab. Früher hatte ich aber geplant, nach meinem Studium in die Werbebranche zu gehen – aber ich bin dankbar und froh darüber, dass eben doch alles ganz anders gekommen ist.
"Es freut mich, dass die Menschen sich noch für die Wissenschaft interessieren"
prisma: Wie würde Ihr Leben heute aussehen, wenn Sie sich nie bei "Wer wird Millionär?" beworben hätten?
Windscheid: Das frage ich mich auch manchmal. Ich hatte damals schon einen Arbeitsvertrag bei einer Unternehmensberatung unterschrieben. Mein Leben hätte sich also sicher in eine ganz andere Richtung entwickelt.
prisma: Seit Anfang des Monats touren Sie mit Ihrem zweiten Bühnenprogramm "Gute Gefühl" durch die Republik. Wie ist das Feedback, das Sie auf Tour von Ihrem Publikum bekommen?
Windscheid: Es ist super! In der Show selbst wird viel gelacht, ich beziehe die Leute auch ein und probiere viel mit ihnen aus. Mir ist aber auch wichtig, den wissenschaftlichen Aspekt nicht außen vor zu lassen. Es freut mich, dass die Menschen sich noch für die Wissenschaft interessieren – gerade in Zeiten, in denen so viel geschwurbelt wird und Meinungen mit Fakten vermischt werden. Genau dafür bedanken sich die Menschen danach oft. Genauso toll finde ich es, wenn ich tatsächlich etwas bewegen kann. Eine Geschichte wird mir dabei immer im Gedächtnis bleiben: Eine Frau kam nach einem Auftritt zu mir und erzählte, dass ihr Mann sich durch meinen Podcast und meine Arbeit endlich getraut habe, eine Therapie anzufangen. Das hat mich total berührt.
prisma: Glauben Sie, das Thema psychische Gesundheit findet ansonsten zu wenig Beachtung in unserer Gesellschaft?
Windscheid: Zum Glück rückt es immer mehr in den Fokus. Das ist allerdings auch längst überfällig: Jeder vierte Deutsche erfüllt einmal im Jahr die Kriterien einer psychischen Störung. Das ist ganz Nordrhein-Westfalen! Von den Betroffenen sucht sich jedoch nur jeder Fünfte Hilfe. Die Not ist also sehr groß, trotzdem stellen sich nur wenige Leute dem Thema.
prisma: Was sind die Gründe dafür?
Windscheid: Leider sind psychische Probleme nach wie vor oft schambehaftet. Dazu kommt, dass es sehr viele Menschen gibt, die zwar nicht die Kriterien einer psychischen Erkrankung erfüllen, sich aber trotzdem total überfordert fühlen. Lange Zeit dachte man, wenn wir nur genug Konsum anbieten und alles immer schneller, neuer und besser machen, wird die Bevölkerung auch glücklicher. Das ist natürlich Quatsch.
"Uns alle beschäftigt, wer wir eigentlich sind"
prisma: Im Netz – zum Beispiel auf Plattformen wie TikTok – ist es mittlerweile gang und gäbe, sich selbst mit psychischen Erkrankungen zu diagnostizieren. Wie stehen Sie dazu?
Windscheid: Ich denke nicht, dass das ein großes Problem ist. Ganz im Gegenteil: Es ist deutlich wahrscheinlicher, dass Leute sagen, es geht ihnen super, obwohl es nicht so ist, als umgekehrt. Erschreckender ist, dass wir seit Jahrzehnten so tun, als hätte kaum jemand eine psychische Erkrankung, obwohl es Millionen betrifft.
prisma: Was sind die Ursachen für den Zuwachs an Selbstdiagnosen?
Windscheid: Die Stigmatisierung psychischer Störungen nimmt ab. Insofern ist es logisch, dass immer mehr Menschen überhaupt mit dem Thema in Kontakt kommen und sich selbst vielleicht auch in so manchem Krankheitsbild wiedererkennen. Mit Blick auf die langen Wartezeiten für einen Therapieplatz ist es sicherlich auch nicht jedem möglich, einen solchen Verdacht sofort abklären zu lassen. Außerdem hängen Selbstdiagnosen wahrscheinlich häufig mit dem Bedürfnis zusammen, Klarheit über sich selbst haben zu wollen. Damit wären wir wieder bei der Eingangsfrage: Uns alle beschäftigt, wer wir eigentlich sind.
prisma: Hatten Sie das Gefühl, aus den Dreharbeiten zu "Terra Xplore" etwas mitnehmen zu können?
Windscheid: Total! Ich lerne unfassbar viel. Besonders im Kopf geblieben ist mir die Begegnung mit Bonnie, die in ihrer frühen Jugend Schreckliches erlebt hat. Sie hat deshalb eine sogenannte dissoziative Identitätsstörung entwickelt, früher sprach man von einer multiplen Persönlichkeit.
prisma: Was bedeutet das?
Windscheid: Ihre Psyche hat sich aufgespalten: Manche Persönlichkeiten sind älter und reflektiert und müssen die Kinder, die in ihrem Kopf mitwirken, im Zaum halten. Das ist auch im Hinblick auf Menschen ohne Identitätsstörung interessant: Die meisten von uns haben verschiedene Anteile, die in uns wirken, aber wir haben das nur selten so klar vor Augen. Man kann viel von Menschen mit psychischen Erkrankungen lernen, solange man ihnen offen und ohne Vorurteile begegnet. Deshalb finde ich die Sendung auch so wichtig: Es ist längst überfällig, dass psychisch erkrankte Menschen wie Bonnie Gehör finden.
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH