Bei "Anne Will"

Russland-Expertin mit schlimmen Befürchtungen: "Ich glaube, es ist der Anfang vom Ende"

26.06.2023, 13.54 Uhr

In der ARD-Talkrunde von Anne Will gab es, aufgrund der Ereignisse, einen Themenwechsel. Statt über die deutsche Abhängigkeit von China zu diskutieren, wurde über den Putschversuch durch den russischen Söldner-Chef Jewgeni Prigoschin gesprochen. 

"Partner und Rivale – Wie gefährlich ist Deutschlands Abhängigkeit von China?" – Das wäre das eigentlich geplante Thema der Talkshow "Anne Will" am Sonntagabend im Ersten gewesen. Doch nach dem Putschversuch Jewgeni Prigoschins, Chef der Söldnergruppe Wagner, änderte die NDR-Redaktion kurzfristig das Thema: "Machtkampf in Russland – Verliert Putin die Kontrolle?" lautete nun die Überschrift, unter der Anne Will mit ihren Gästen aus Politik und Medien diskutierte.

Den Anfang machte die Moskau-Korrespondentin der ARD, Ina Ruck: Nach dem angeblichen Rückzug Prigoschins ins belarussische Exil gab sie ein recht vages Bild der momentanen Lage in der russischen Hauptstadt wieder. "Ich weiß nicht, wie viele Spuren das jetzt direkt hinterlässt", sagte die zugeschaltete Journalistin. An Putins Umfragewerten habe sich bislang sicher "nicht so viel" geändert, spekulierte sie weiter, "aber auf lange Sicht vergessen das die Leute nicht."

Was ist wirklich passiert?

Putins Popularität fuße auch auf dem Sicherheitsgefühl, das er den Menschen gebe: "Er ist der Garant für Stabilität und Sicherheit hier." Ein steigendes Unsicherheitsgefühl sei "Gift für jemanden wie Putin". Das russische Fernsehen steuere deshalb schon dagegen, fuhr sie fort: "Wir haben heute hier Berichte gesehen, die aus meiner Sicht fast verharmlosend wirken." Die "unglaubliche Kehrtwende" von Putin kann sie wie viele in Russland nicht verstehen. Was wirklich passiert ist, werde man erst erfahren, wenn in ein paar Wochen "politisch die ersten Köpfe rollen".

Es sei absolut deutlich geworden, dass Putin die Kontrolle verloren hab, sagte auch Sabine Adler. Die Osteuropa-Expertin von Deutschlandradio setzte sogar noch eins drauf: "Ich glaube, es ist der Anfang vom Ende. Es hat gezeigt, dass sich jemand aufschwingen und zumindest versuchen kann, Putin etwas zu diktieren."

Prigoschin müsse eine "eine unglaubliche Rückendeckung haben", vermutete sie: "Er wollte stärker als der Präsident sein, er wollte dem Präsidenten seine Bedingungen diktieren. Das kann man nur, wenn man sich wahnsinnig sicher fühlt. Und wann fühlt man sich sicher? Wenn man Leute im Rücken hat, und das sind in Russland die Geheimdienste." Mit anderen Worten: "Wir haben es mit unglaublichen Machtkämpfen hinter den Kulissen zu tun, und das wohl schon eine ganze Weile".

Hoffnung auf eine Wende im Ukraine-Krieg

Als einen "Schlag ins Gesicht" Wladimir Putins bezeichnete der Militärexperte Carlo Masala die Ereignisse des Wochenendes: "Der Mann, der sich gern mit nacktem Oberkörper zeigt, auf Bären, Pferden und allem möglichen reitet, auf U-Booten und Panzern fährt, wird von einer Privatarmee, von der wir nicht wissen, wie groß sie ist, in die Ecke gedrängt und muss mit einem nicht staatlichen Akteur verhandeln." Für den Exilanten hatte der Professor für Internationale Politik nur einen Rat: "Wenn ich Prigoschin wäre, würde ich jede Nacht für die nächsten Jahre dreimal das Bett wechseln, um nicht erwischt zu werden." Schließlich habe Putin auch schon bei anderen Regimegegnern einen langen Atem bewiesen, um sie ermorden zu lassen.

Prigoschin "macht sich schon gerade sehr viele Gedanken um seine Gesundheit und sein Leben", spekulierte auch Lars Klingbeil. Der SPD-Parteivorsitzende war als einziger ursprünglich geplanter Gast übrig geblieben. In dem versuchten Putsch sah Klingbeil einen "Wendepunkt in der Geschichte der Politik in Russland und hoffentlich im Krieg in der Ukraine": "Ich glaube, dass jetzt in der Moskauer Elite durchaus die Frage anfängt: Kann Putin uns eigentlich beschützen, wenn es hier ernst wird?" Zusammen mit der "Unzufriedenheit über den Kriegsverlauf in der Ukraine" führe dies "hoffentlich dazu, dass das System Putin destabilisiert wird".

So sah es auch Roderich Kiesewetter: "Das ist für uns ein Signal, dass wir in der Unterstützung der Ukraine nicht nachlassen dürfen", forderte der CDU-Bundestagsabgeordnete. Stattdessen müsse man die Schwäche Putins nutzen, "damit sein Gravitationszentrum, die Krim, von der Ukraine befreit wird. Nicht unbedingt blutig, sondern indem mit weitreichenden Waffen, mit entsprechenden Raketen, aber auch mit Kampfflugzeugen die Versorgungslinien der Russen auf der Krim zerstört werden, sodass die russischen Truppen dort aufgeben müssen."

Und wie schätzt die ukrainische Regierung die momentane Lage ein? Diese Frage versuchte der Ukraine-Korrespondent der ARD, Vassili Golod, in einer Live-Schalte aus Kiew gegen Ende der Sendung weitestmöglich zu beantworten: "Die Hoffnung, dass das System innerhalb weniger Stunden implodiert, die hat in der Ukraine niemand", betonte er: Aber es gebe durchaus "Hoffnung und vorsichtigen Optimismus, dass die Ereignisse in Russland dazu führen, dass dieses Regime geschwächt wird, und jede Schwächung des Regimes ist eine Stärkung für die Ukraine, ist eine Möglichkeit, dass sich die Situation für die ukrainischen Streitkräfte verbessert."

Anne Will steht nur noch bis Ende des Jahres für die ARD-Talkrunde vor der Kamera. Nun steht fest, wer die Nachfolge übernimmt. Hier finden Sie den ganzen Artikel. 


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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