Bei "Markus Lanz"

Holocaust-Überlebender beeindruckt mit Auftritt und zuverschichtlichen Worten zum Schluss

31.01.2024, 09.42 Uhr
von Doris Neubauer

Bei Markus Lanz war am Dienstagabend ein besonderer Gast in der Runde. Der Holocaust-Überlebende Leon Weintraub gab eine Lehrstunde, "wie es sie leider nicht mehr oft geben wird". Eindrucksvoll erzählte der 98-Jährige von seinen Erlebnissen und konnte dennoch zuversichtliche Worte für die Zukunft finden. 

"Es kam der berühmte Daumen – rechts bedeutete Tod. Links Leben – auf Aufschub"

An die "lange Reise vom Ghetto an diesen Ort" (gemeint ist Auschwitz-Birkenau) hat Leon Weintraub keine Erinnerungen. Umso mehr Bilder kommen dem 98-Jährigen, wenn er an die Ankunft im Konzentrationslager denkt. "Es herrscht Totenstille, kein Ausdruck der Empörung oder Enttäuschung, alle waren wie gelähmt", schilderte er den Moment bei Markus Lanz, "dann wurde die Tür aufgerissen, ich sah merkwürdige Gestalten in blau-weiß gestreiften Schlafanzügen und hörte nur das Wort: Raus, raus, raus."

Im Augenwinkel habe er den Stacheldraht, weiße Isolatoren, Leitungen gesehen. Als Elektriker hätte er sofort gewusst, was das bedeutete: "Strom am Zaun, wohin hat man uns gebracht?" Dann sei die "Prozedur der Entmenschlichung" erst richtig losgegangen, so Weintraub: In Reih und Glied aufgestellt, seien die Gefangenen gemustert worden. "Es kam der berühmte Daumen – rechts bedeutete Tod. Links Leben – auf Aufschub", berichtete er. Seine Mutter hätte sich krampfhaft an seiner Tante Eva festgehalten, die zehn Jahre älter war und somit sofort den rechten Finger erhalten habe. "Sie hat Mama mitgezogen", so der Vater einer Tochter. Am nächsten Tag sei sie vergast worden.

Weintraub berichtet von Erstarrung

Er hingegen sei als Arbeitskraft im Block 10 gelandet, so Weintraub weiter: "Ich hatte Pech, ich habe keine einzige Person von früher gekannt", erzählte er, "meine drei Schwestern waren zusammen. Wäre meine Mutter bei der Selektion durchgekommen, hätte sie eine Chance zu überleben mit drei Töchtern ...", geriet er kurz ins Stocken. Die Pause dauerte nur einen Moment, aber es war dieser kurze Augenblick, die auch Markus Lanz auffiel: "Quält sie das bis heute?", fragte der Moderator. "Ja, das ist ein Gedanke, der mich immer quält. Eine Art Leid", erwiderte Weintraub, und berichtete im gleichen Atemzug vom Geruch nach schwer verbrannten Fleisch.

Ob ihm klar gewesen wäre, dass hier Menschen verbrannt wurden, unterbrach ihn Lanz. "Keine Ahnung. Ich habe den Mund nicht aufgemacht, ich kannte ja keinen", antwortete der frühere Gynäkologe, "in der Medizin gibt es den Ausdruck Katatonie, der Ausdruck der Erstarrung. Man sieht, hört, kann Befehle ausführen, aber hat keine höhere Hirntätigkeit. Man ist wie in einem Kokon eingeschlossen. Es ist ein Selbsterhaltungstrieb, der mich verschont hat, das richtig wahrzunehmen, was um mich geschieht. Sonst wäre ich durchgedreht."

Holocaust-Überlebender will die Menschen warnen

Überlebensstrategien wie diese, aber auch jede Menge Glück ließen ihm dem Tod so einige Male von der Schippe springen. Er entkam nicht nur Auschwitz, sondern überlebte drei weitere Lager und einen Todesmarsch. Nach der Befreiung arbeitete er als Gynäkologe in Polen, emigrierte aber 1969 wegen des zunehmenden Rechtsrucks nach Schweden. Seit er vor 30 Jahren in den Ruhestand getreten ist, stellt er sich als "lebendiges audio-visuelles Lehrhilfsmittel" in den Dienst der Sache und schildert die "Geschichte gegen das Vergessen" – in Schulen, an Gedenkstätten und an diesem Abend bei Markus Lanz. "Es ist nützlich, die Wahrheit über den Alltag unter den Nazis zu berichten", betonte er. Denn was mit einer Abneigung gegen andere, mit einer Missachtung und Herabsetzung anfange, führe "geraden Weges in die Gaskammer".

"Sobald ich einen Schüler treffe, der dir zugehört hat, fragt er immer nach dir", soll ein Geschichtslehrer zu Leon Weintraub gesagt haben, in dessen Schule der Shoah-Überlebende einmal im Jahr von seinen Erlebnissen im Holocaust berichtet. Einen tiefgreifenden Eindruck hinterließ er auch im Interview mit Markus Lanz. "Wenn ich etwas mitnehme, dann dass man nicht nur betont und sagt, es gibt Artikel 1 ("Die Würde des Menschen ist unantastbar"), sondern deutlich macht: Was heißt das für die Gesellschaft und wie wir uns als BürgerInnen sehen und einander unterstützten?", brachte es die Journalistin Nadine Lindner auf den Punkt.

Journalistin: AfD muss verantwortlich gemacht werden

"Wie setzt man sich beispielsweise mit der AfD auseinander, kritisch, klar, aber ohne sie zu dämonisieren?", die Frage nach der Lehre aus Weintraubs Geschichte beschäftigte an diesem Abend auch Markus Lanz sichtlich. Bestseller-Autor Harald Jähner hatte eine Antwort parat: "Indem man sie ganz genau beschreibt und auch die Unterschiede beschreibt", antwortete er. Menschen "pauschal als Nazis zu bezeichnen, dämonisiert sie und führt dazu, dass sie bei widerlichen Menschen an Respekt gewinnen." Das dränge die Leute nach rechts. Auch politische Gegner sollte man seiner Meinung nach nicht vorverurteilen. Jähner nannte ein Beispiel: So dürfte man Tino Chrupalla als AfD-Mitglied nicht Heuchelei vorwerfen, wenn er sich gegen Abschiebung ausspräche. Auch andere Mitglieder der Partei könnten nicht unter Generalverdacht gestellt werden, zog er hier auch seine eigene Zunft – den Journalismus – zur Verantwortung.

Dem widersprach die Deutschlandfunk-Politikreporterin Lindner vehement: "Mein Eindruck ist, dass die AfD sehr genau weiß, was sie tut und verantwortlich gemacht werden muss", argumentierte sie. Spätestens seit dem Geheimtreffen mit Martin Sellner als langjährigem Vordenker der identitären Bewegung fänden gewisse Selbststeuerungsmechanismen in dieser Partei nicht mehr statt. Liberale Kräfte wären mittlerweile aus der Partei ausgetreten oder erhielten innerhalb der AfD keine Stimme. Auch innerhalb der Bevölkerung hätte sich die Stimmung radikalisiert, die Asyl- und Migrationspolitik wäre restriktiver geworden. "Die AfD ist viel stärker und näher dran, diese Dinge auch umsetzen zu können, weil sie an der Macht kratzt", warnte sie.

"In Frieden miteinander leben kostet nichts"

Wie bleibe man angesichts all der Gefahren optimistisch und konstruktiv, wandte sich Lanz zum Schluss an Holocaust-Überlebenden Weintraub. Dessen Antwort hinterließ nicht nur beim Moderator nachhaltige Spuren: "Ich habe nicht aufgehört zu glauben, dass schließlich und endlich der gesunde Menschenverstand siegen wird", verströmte er Zuversicht. "Soldaten ausbilden, Uniformen nähen, Waffen produzieren" – es wäre absurd, für all das Geld auszugeben, um so Konflikte durch gegenseitiges Töten zu lösen. "'In Frieden miteinander leben kostet nichts', das werden wir uns als Satz merken", beendete Lanz diesen wahrlich geschichtsträchtigen Abend.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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