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"Polizeiruf 110: Black Box" – Das großartige Finale rettet diesen Krimi

03.07.2022, 08.42 Uhr
von Eric Leimann
Kommissarin Doreen Brasch (Claudia Michelsen) steht vor einem Rätsel.
Kommissarin Doreen Brasch (Claudia Michelsen) steht vor einem Rätsel.  Fotoquelle: MRD/ filmpool/ Connie Klein

Ein junger Mann erschlägt im Zug einen anderen Fahrgast. Doch das Motiv gibt den Ermittlern um Doreen Brasch Rätsel auf – denn der Täter scheint selbst nicht zu wissen, warum er so ausgerastet ist. "Polizeiruf 110: Black Box" ist der letzte ARD-Sonntagskrimi vor der Sommerpause.

Zwei junge Männer, ein schwules Paar, sitzen im Zugabteil auf dem Weg nach Magdeburg. Als sich ein laut telefonierender Polterer dazusetzt, rastet einer der beiden aus und erschlägt den Störenfried. Wenig später kann sich der 21-jährige Täter Adam Dahl (Eloi Christ) im "Polizeiruf 110: Black Box" nicht mehr erinnern, was in diesem Moment über ihn kam. Er kannte das Opfer nicht mal. Derweil hat sich Adams Freund Tomislav (Kai Müller) vom Acker gemacht. Für Kommissarin Doreen Brasch (Claudia Michelsen), Kriminalrat Uwe Lemp (Felix Vörtler) sowie Braschs neuen Assistenten Günther Márquez (Pablo Grant) scheint die Bluttat im Zug ein etwas seltsamer, aber nicht allzu komplexer Fall zu werden. Der Täter ist bereits gefasst, nur das Motiv ist noch unklar. Adams Eltern sind allerdings einflussreiche Leute. Vater Klaus-Volker leitete früher das LKA, Mutter Bianca (Corinna Kirchhoff) arbeitet sehr erfolgreich als Psychotherapeutin und Buchautorin.

Doreen Brasch, die seit ihrem letzten furiosen Einsatz im herausragenden "Polizeiruf 110: Der Verurteilte" selbst traumatisiert ist, kämpft mit der von ihr gewohnten Vehemenz um die Aufklärung der wohl im Unterbewusstseen Adams anzusiedelnden Motive für sein Ausrasten. Der Ermittlerin wird die Arbeit jedoch nicht leicht gemacht. Über Kriminalrat Lemp und eine Spitzenanwältin ziehen die mächtigen Eltern des Täters alle Register, um ihr Kind zu schützen.

Brasch wäre nicht seit bald neun Jahren die wohl leidgeprüfteste TV-Ermittlerin Deutschlands, wenn sie an dieser Stelle klein beigeben würde. Und so entwickelt sich ein Psychokrimi im wahrsten Sinne des Wortes: Mithilfe gewagter Küchenpsychologie, alter Hitchcock-Motive und einer gewaltigen Seitenladung Drehbuch-Konstruktion versucht die Kommissarin, das Trauma des Täters zu entblättern. Bis zum Ende durchzuhalten, lohnt sich dennoch. Die letzten acht Minuten des MDR-Krimis sind einfach nur großartig.

Die letzten acht Minuten sind ganz anders

Wenn Doreen Brasch zu Beginn ihres 15. Einsatzes immer wieder mit schwer belastenden Flashbacks ihres letzten Einsatzes zu kämpfen hat, muss man schnell noch mal nachsehen, ob "Der Verurteilte" (Deutscher Fernsehpreis für Sascha Alexander Geršak als Bester Hauptdarsteller) tatsächlich Fall 14 war. Aber ja, es stimmt. Zwischen dem letzten (Dezember 2020) und diesem Einsatz der Magdeburgerin liegen mehr als anderthalb Jahre. Nachdem "Polizeiruf 110: Black Box" (Drehbuch: Zora Holtfreter, Regie: Ute Wieland) mit dem Knalleffekt eines überraschenden Mordes beginnt, stellt sich nach etwa 15 Minuten ein ungutes Gefühl ein. Allzu konstruiert wirken die Parallelen zwischen den Traumata des Mörders und der Kommissarin, zu naiv indes die Figur von Braschs Chef Lemp, der gewillt ist, alles zu glauben, was ihm die beschwichtigende Außenwelt im Sinne einer schnellen Beendigung der Ermittlung einflüstert.

Natürlich lässt Brasch all das nicht mit sich machen und kämpft trotz klaustrophobischer Zustände, Panikattacken und persönlicher Vorwürfe, sie selbst sei eine traumatisierte, schlechte Mutter gewesen, durch viele Unglaubwürdigkeiten des Drehbuchs. Dazu kommen ziemlich überspannt vorgetragene Theorien zu Untiefen und Manipulierbarkeit des menschlichen Gedächtnisses, die in einer fast schon unfreiwillig komischen Szene ihren Höhepunkt finden, die einen Uniprofessor und eine hypnotisierte Studentin beim Praxis-Seminar zeigen. Wenn der geheimnisumwitterte Täter außerdem noch Leiter-Motive in Serienproduktion zu Papier bringt – natürlich ebenfalls ohne zu wissen, warum -, fühlt man sich vollends in Alfred Hitchcock-Klassiker wie "Spellbound" von 1945 zurückversetzt, in denen der Altmeister sein Steckenpferd für diese neuartige Sache mit dem Unterbewusstsein in filmisch etwas platte Motive übersetzte. Nur: Was damals neu war, ist im deutschen TV-Krimi 77 Jahre später etwa 7.700-mal durchexerziert worden.

Dann jedoch, wenn man den leider viel zu oft Geschmacks-unsicheren Magdeburg-Krimi schon längst aufgegeben und ein Daumen-nach-unten-Urteil festzustehen scheint, passiert etwas Seltenes. Als hätte man die Macher hinter den Kulissen heimlich ausgetauscht, folgt ein fantastisches Finale, das nicht nur ästhetisch, sondern auch erzählerisch ganz anders ist, als die 80 Minuten davor.

Der "Polizeiruf 110: Black Box" endet mit einer Wendung – und die ist ebenso sensibel wie mitreißend inszeniert, dass der letzte Krimi vor der Sonntagspremieren-Sommerpause einen doch irgendwie angefasst zurücklässt. Vielleicht ist zum Finale ja das Unterbewusste mit den Machern durchgegangen und hat alle zuvor nach "Schema F" ausgearbeitete TV-Krimi-Psychologie über den Haufen geworfen.

Polizeiruf 110: Black Box – So. 03.07. – ARD: 20.15 Uhr


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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