Der pensionierte Kommissar Jakob Franck (Thomas Thieme), der den Hinterbliebenen immer die notwendige Todesnachricht überbrachte, hat seine eigenen, ganz intuitiven Methoden. Jetzt ist er einem Rufmord auf der Spur.
Ein bisschen arg redselig ist er schon, der alte Kommissar Jakob Franck (Thomas Thieme), wenn er so von seinen Toten spricht, die er doch eigentlich hinter sich gelassen hat. "Die Toten halten sich nicht an den Tag der Toten", schwurbelt er, der jetzt Pensionierte, der immer schon den Hinterbliebenen die Nachricht vom Tod ihrer Angehörigen überbrachte. "Aus dieser Welt kehrt niemand unversehrt und traumlos zurück", behauptet er, dann wieder wohl zu Recht, wenn er den Alltag eines Kommissars in Mordsachen meint. Kein Geringerer als Volker Schlöndorff, der seit seinem Erstling "Der junge Törless" (nach Musil) als Spezialist für Literaturverfilmungen gilt, adaptierte nun "Der namenlose Tag", den Bestseller des Münchner Kriminalmystikers Friedrich Ani, und setzte dabei glücklicherweise manche ironisch-sarkastische Pointe.
Zwei Jahre ist es nun her, dass sich Esther, die damals 17-jährige Tochter des Textilhändlers Ludwig Winther (Devid Striesow) das Leben genommen hat. Für die Kriminalpolizei, auch für den nun pensionierten Kommissar a.D. Franck stand damals fest: Es war Suizid durch Erhängen.
Doch jetzt, zwei Jahre danach, vermeldet Winther, auch seine Frau habe sich das Leben genommen. Zugleich behauptet er, felsenfest davon überzeugt zu sein, dass die Tochter damals ermordet worden sei. Mehr noch: Der Zahnarzt von gegenüber, ein Schürzenjäger, der es bevorzugt auf junge Mädchen abgesehen habe, sei der Mörder gewesen. Grund genug für Franck, der eigentlich längst mit seiner früheren Profession abgeschlossen hat, noch einmal Ermittlungen zu dem früheren Fall aufzunehmen. Er macht das nach seinem ganz eigenen Rezept, meditativ und selbstsuggestiv. Die jungen Kollegen im Kommissariat, die Franck besucht, machen sich ein wenig lustig darüber, dass er sich "auf den Boden" lege, wenn er nicht weiter wisse, und an die Decke schaue: "Wenn ich aufwache, zieh ich den Täter wie ein Kaninchen aus'm Hut!"
Der Serien-Profiler seligen Angedenkens wird da noch einmal eine Umdrehung weiter geschraubt. Er beziehe seine Kraft, so muss man es nehmen, aus der Anteilnahme an den Hinterbliebenen und auch den Opfern. Er fühle sich so sehr in sie hinein, dass er irgendwann zwangsläufig an die Lösung seiner Fälle gelange. Das erinnert nicht wenig an den "Sperling" des Dieter Pfaff, den ungewöhnlich sensiblen ZDF-Kommissar aus den 90er-Jahren. Allerdings wird dessen Sensibilität und Empathie von Franck noch übertroffen: Nicht weniger als sieben Stunden, eine ganz Nacht lang, stand er Doris Winther, Esthers Mutter, damals bei, als er ihr die Nachricht vom Tod der Tochter überbrachte.
Alle Redseligkeit wird aber glücklicherweise durch viele Traumsequenzen und Erinnerungsbilder belebend gestört. Schlöndorff gibt bei seinem TV-Gastspiel Unschärfen, Doppelbelichtungen und Videoschlieren viel Raum und unterlegt sie mit einem ungewöhnlichen Score. Auch werden die verschiedenen zeitlichen Ebenen, die Rückblenden und Traumsequenzen mit leichter Hand übereinandergelegt. Andererseits das bewusste Spiel mit dem Trivialen, mit Krimimustern: Striesow spielt, herrlich, einen Vater, der immer aufs Neue in Verdacht gerät und voller Empörung jeden Schuld von sich weist. Er sei ein ordentlicher Mensch, er habe Arbeit und Verdienst. Das Haus sei mittlerweile abbezahlt. So ordentlich und empört ist er, dass ihn jedermann für den Mörder halten muss.
Im Kern ist das ein sehr normaler Whodunit-Krimi: Wer war der Mörder? Der eigene Vater, weil er der Entdeckung sexueller Übergriffe entgehen wollte, der Zahnarzt, oder doch jenes Satanisten-Jüngelchen, mit dem Esther immer so schöne Maskenspiele betrieb? Oder waren es eben doch Suizide, ausgelöst von grenzenloser Einsamkeit, vom Unverständnis der Umgebung bis hin zum Mobbing? Die Zeugen legen das nahe – in großartiger Pose Inge, Doris' in Berlin lebende (Zwillings-) Schwester. Franck rückt ihr in einer umwerfend realistisch wirkenden Szene beim Rotwein-"Du" ganz nahe, wird aber beiseite gestoßen. Ursina Lardi macht aus ihrer Doppelrolle (!) eine sehr geheimnisvolle Sphinx. Nur von Tina Engel, Schaubühnen- und Schlöndorff-Schauspielerin aus alten Tagen, wird sie an Intensität noch übertroffen. So spitzzüngig hat man noch selten einen Kommissar im festen Griff der Freundin gesehen.
Insgesamt ein erfreuliches Experiment mit viel verdeckter Komik. Man sollte die Altmeister ruhig mal öfter machen lassen, es bringt neuen Schwung. Dass allerdings ausgerechnet die Domtreppe zu Erfurt, Schauplatz der Amok-Trauerfeier von 2002, zeitweilig als Kulisse einer Isolation herhalten musste, war ein eher ärgerlicher Missgriff am Rande.