Die seit 2003 ermittelnde Kommissarin Lucas, gespielt von Ulrike Kriener, gehört zu den älteren Vertretern der ZDF-Krimikultur. Trotzdem versucht Fall Nummer 28, den Überschwang des Jungseins in 90 Krimiminuten zu verpacken. Gelingt das?
Ulrike Kriener, die im Dezember 65 Jahre alt wird, ermittelt seit dem 1. März 2003 fürs ZDF. Damals war die Krimikultur der Deutschen noch eine andere. Ermittler und ihre Krimistandorte mussten keine scharfkantigen Profile aufweisen. Sie wurden nicht gezwungen, auf besondere Art lustig, skurril oder schwersttraumatisiert zu sein. Stattdessen sollte sie einfach nur ihren Job machen. Insofern ist es erstaunlich, dass die eher leise und konventionelle Kommissarin aus Regensburg immer noch im Amt ist. Ellen Lucas' 28. Fall beginnt mit einer auf einem Baum-Hochsitz im Wald lagernden Leiche einer jungen Frau.
Es sind die sterblichen Überreste von Moni Kindler (Luise von Finckh), die ein paar Monate zuvor aus einem ländlichen Heim für schwer erziehbare Mädchen ausbüchste. In jenem Heim, dem Aschenbachhof, treffen die Ermittler auf Monis Zimmernachbarin Polly (Marie Bloching), die sich vom Tod der Freundin tief schockiert zeigt. "Kommissarin Lucas: Polly" bedient sich des dramaturgischen Kniffs, die Vorgeschichte der beiden Mädchen häppchenweise in Form von Selfie-Videos zu erzählen. Dank des starken Spiels der jungen Darstellerinnen bekommt der leise erzählte Sozialkrimi dadurch phasenweise ein "wildes" Sturm- und Dranggefühl.
Auch wenn der durchschnittliche Zuschauer von ARD und ZDF, Heimat von Krimiunterhaltung in der deutschen Primetime, längst über 60 Jahre alt ist – ein reines Renten- oder Vorruhestands-TV will man auch hier nicht sehen. Etwas Verjüngung täte also not, vor allem in einem 16 Jahre alten Format, bei dem Figuren wie die Ermittlerin oder ihr Vermieter (Tilo Prückner, 79, seit Folge eins dabei) ganz schön in die Jahre gekommen sind. Als Lucas' Assistenten, die über die Jahre immer mal wechselten, schieben derzeit Lasse Myhr (39) und Jördis Richter (33) Dienst. Als Kommissare Tom Brauer und Judith Marlow dürfen die im Fahrwasser ländlicher Ermittlungen schon mal in der Dorfkneipe tanzen, saufen und miteinander anbandeln. Was man halt so tut, wenn man jung ist. Der kontrollierte Kontrollverlust der Assistenz-Kommissare ist jedoch nichts gegen das wilde Leben der beiden Episodenstars Polly und Moni.
Sturm und Drang per Videobotschaft
Dass die beiden Heimmädchen eine nicht ganz unproblematische Jugend erleben, versteht sich aufgrund ihres Aufenthaltsortes von selbst. Doch je tiefer der Zuschauer in das Leben der beiden etwa 17-jährigen Mädchen eindringt, desto mehr erfährt er von einem Widerspruch zwischen Leid und phasenweiser Euphorie. Während sich Moni in ihren Videobotschaften als exaltierte, durchaus selbstbewusste Partyqueen mit Größenwahn-Gen erweist, kommt Polly der zurückhaltende Werther-Part mit einer Achterbahnfahrt zwischen grenzenloser Begeisterung und tiefer Verzweiflung zu. Eine große Stärke dieses – an sich – eher solide bis konventionellen Sozialkrimis ist das Spiel der beiden jungen Darstellerinnen Marie Bloching und Luise von Fincks.
Die 24-jährige Berlinerin von Finckh begann im Alter von zehn Jahren als Kinderdarstellerin ("Schloss Einstein") und wurde der Fanschar des Soap-Formats "GZSZ" als Darstellerin der Jule Vogt ein Begriff. Sie polarisierte während ihrer Hauptrolle in den Jahren 2016 und 2017 mit einer etwas anstrengenden Art derart, dass die Darstellerin einen Shitstorm in den sozialen Medien ertragen musste und man die Fans daran erinnern musste, dass es sich nur um eine Rolle handelt, die von einer Schauspielerin gespielt wird. Noch etwas unbekannter ist Polly-Darstellerin Marie Bloching, die derzeit ein Schauspielstudium an der Otto-Falckenberg-Schule in München abolsviert. Für den Part der jungen Paula im ARD-Film "Das Beste aller Leben" von Rainer Kaufmann wurde die 1996 geborene Schauspielerin 20-jährig für einen Günter-Strack-Fernsehpreis nominiert.
Im ZDF-Samstagskrimi "Kommissarin Lucas: Polly" dürfen nun beide Schauspielerinnen die ganze Palette der Großartigkeit und Verzweiflung des Jungseins geben – was ihnen überzeugend mit stellenweise faszinierender schauspielerischer Ambivalenz gelingt. Ihr Spiel ist ein schöner Gegensatz zum Thema dieses an sich leisen Sozialkrimis, der triste Heim-Lebenswelten früh Gescheiterter ausleuchtet, und insofern jede Art von Aufheiterung gebrauchen kann.