Peter Rüchel im Interview

Als ich noch viel älter war...

von Eric Leimann

Am 23. Juli 1977 flimmerte die erste lange "Rockpalast"-Nacht der ARD über die Bildschirme. Es spielten: Rory Gallagher, Little Feat und Roger McGuinn's Thunderbyrd. Ebenso wie die Namen der Stars, scheint auch das vielleicht coolste ARD-Programm aller Zeiten heute wie ein Relikt aus einer lang vergangenen TV-Zeit.

Peter Rüchel, 80 Jahre alt, hatte das rockige Anarcho-Program seinerzeit beim WDR aus der Taufe gehoben: Drei Bands spielten live nach dem "Wort zum Sonntag" bis in die frühen Morgenstunden. Das Ganze wurde über vier oder fünf Stunden live aus der Essener Grugahalle über die Eurovisionskanäle in halb Europa verbreitet. Nach der Quote fragte lange niemand. In den Umbaupausen gab es drogenvernebelte Interviews mit Musikern oder einfach gemeinsames Warten. "Mr. Rockpalast", der heute immer noch langhaarige Peter Rüchel, erinnert sich an die Ära.

prisma: Als Sie den "Rockpalast" 1977 aus der Taufe hoben, waren Sie 40 Jahre alt. Fühlten Sie sich nicht zu betagt für den Job?

Peter Rüchel: Nein, überhaupt nicht. Bei mir hat immer alles etwas länger gedauert. Ich machte 1956 Abitur. Danach wusste ich lange nicht, was ich will oder kann. Ich hätte großes Talent besessen, als ewiger Student zu enden. Gott sei Dank kam etwas dazwischen. Als ich mich mit meiner Doktorarbeit in Germanistik langweilte, wurde ich Vater und musste Geld verdienen. So kam ich zu einem Job im Filmarchiv des Freien Senders Berlin. Das war der Beginn meiner Arbeit beim Fernsehen.

prisma: Wo Sie fürs ZDF und später beim WDR Jugendformate entwickelten. Aber noch mal die Frage: Fühlten Sie sich mit 40 jung genug, um die Jugend zu verstehen?

Rüchel: Es gibt einen Song von Bob Dylan, "My Back Pages". Darin heißt es: "But I was so much older then, I'm younger than that now." Von Wolfgang Niedecken wurde das mal kongenial übersetzt mit: "das war, als ich noch viel älter war. Es ist viel passiert seither."

prisma: Die Musiker, die Sie in den großen Jahren des "Rockpalastes" einluden, waren mehrheitlich sehr viel jünger als Sie. Spürten Sie einen Graben?

Rüchel: Nein, das Alter spielte keine Rolle. Mit vielen Musikern, die bei uns spielten, habe ich mich angefreundet. Mittlerweile nähern wir uns altersmäßig einander an (lacht). Neulich habe ich ein Konzert meines Freundes Little Steven in Frankfurt besucht. Als wir uns kennenlernten, war er ein junger Typ, Mitte 20. Heute ist er Mitte 60. Wir sind gefühlt näher zusammengerückt, auch wenn sich der Altersabstand von 15 Jahren natürlich nicht verkürzt hat.

prisma: Mussten Sie 1977 Widerstände überwinden, um den "Rockpalast" ins Samstagabend-Programm der ARD zu hieven?

Rüchel: Nein, gar nicht. Jeder, der damals etwas Außergewöhnliches im Fernsehen vorhatte, wollte zum WDR. Er galt damals als die große, liberale Anstalt. Nach meinem Einstellungsgespräch bei Werner Höfer war mir klar: Hier kriege ich Spielraum. Ich sollte ein Jugendprogramm machen und durfte das dann auch. Musik gehörte für mich zwingend dazu. Als ich unsere Idee für die "Rockpalast"-Nächte bei meinem Abteilungsleiter vortrug, meinte der nur: "Wissen Sie, Peter, das ist eine sehr gute Idee."

prisma: Hatte keiner Angst, die Live-Übertragung eines mehrstündigen Rockfestivals könnte aus dem Ruder laufen? In der ersten Show hatte man während einer 40-minütigen Umbaupause keine Idee, wie man die Zeit füllen sollte. Dazu kamen immer wieder Musiker, die auf Droge Interviews gaben. Ziemlich verrückt aus heutiger Sicht ...

Rüchel: Mein Kollege Christian Wagner und ich wollten Konzerte ins Fernsehen bringen. Wir hatten davor schon eine Sendung "Rockpalast", in der wir 30 Minuten eines Konzertes zeigen durften. Da war die Sendezeit zu Ende, bevor das Konzert richtig angefangen hatte. Es stellte uns nicht zufrieden. Wir dachten groß: Drei Bands von Samstagnacht auf Sonntag, Eurovisions-Schalte, Ende offen, parallele Übertragung im Radio - denn der Fernseher konnte damals noch kein Stereo. All diese verrückten Ideen durften wir umsetzen.

prisma: Chaos-Interviews mit Musikern waren also auch kein Problem?

Rüchel: Nein, das war einfach so. Die total bekiffte Patti Smith, der sturzbetrunkene Mitch Ryder, das Interview mit einem sehr seltsamen John Cale im Kleiderschrank oder auch die Red Hot Chili Peppers, später dann auf der Lorelei, die bei der Zugabe nackt bis auf die Socke über dem Penis spielten – all das führte niemals dazu, dass sich irgendjemand beim WDR beschwerte. Man hatte einfach begriffen, dass dieser etwas unberechenbare Live-Charakter ein wesentlicher Teil der Sendung war. Wenn der "Rockpalast" anfing, wusste man nicht, wie er ausgeht. Da lag eine große Spannung drin - und die war akzeptiert.

prisma: Trotzdem blieben die goldenen Jahre des "Rockpalast" überschaubar. Anfang, Mitte der 80-er ließ das Interesse nach. 1986 wurden die langen Nächte abgeschafft. Wie kam es zu dem Niedergang?

Rüchel: Das Interesse ließ nach, als sich die ganze Medienlandschaft änderte. Mitte der 80-er erschienen die Privaten am Horizont. Auf einmal sollte man sich mit so etwas wie Quote beschäftigen. Dazu machte sich das Öffentlich-Rechtliche selbst Konkurrenz - mit einer Videoclip-Sendung namens "Formel 1", die ab 1985 in den Dritten ausgestrahlt wurde. Die Videoclips waren damals das neue, große Ding. So wollte man Musik präsentiert haben. Auch ich fand das damals spannend.

prisma: Bekamen Sie Quotendruck?

Rüchel: Na ja, so halb. Mein Programmdirektor fragte mich mal, wie denn meine Quote gewesen sei. Ich sagte: "Sie lag bei 100 Prozent! Alle, für die Rockmusik ein Lebensmittel ist, haben zugeschaut." Wir wollten doch gar nicht jeden glücklich machen damals. Unser Ziel war, jene zu erreichen, die sich für ein gutes Rockkonzert begeistern können. Und die wurden damals – zumindest am Fernsehapparat – weniger.

prisma: Mittlerweile ist das Musikvideo längst wieder tot. Dafür gibt es erfolgreiche Sendungen wie "Sing meinem Song", in der echte Musiker mit einer Band auf der Bühne spielen. Gibt es ein Comeback von handgemachter Musik im Fernsehen?

Rüchel: Erst mal darf man nicht vergessen, dass es den "Rockpalast" immer noch gibt. Zwar nicht mehr als große Live-Nacht, aber als Konzertformat ist er seit 40 Jahren existent. Ob nun "Sing meinen Song" für einen neuen Trend steht, weiß ich nicht. Im letzten Jahr war ich bei einem BAP-Konzert, bei dem Nena, die wohl auch in der Sendung war, den Song "Du kanns zaubere" interpretierte. Das war das Liebeslied Wolfgang Niedeckens an seine erste Frau. Die Plausibilität entglitt mir etwas. Insgesamt glaube ich nicht, dass Live-Musik im Fernsehen noch mal der große Renner wird. Diese Zeiten scheinen mir vorbei.

prisma: War der "Rockpalast" ein teures Programm?

Rüchel: Nein, gemessen an der großen Unterhaltung, war er das nicht. Die "Rockpalast"-Nächte hatten einen Etat von 500.000 D-Mark. Davon musste alles bezahlt werden. Man sieht daran, Gagen spielten keine große Rolle. Das Motiv für die Gruppen war ein anderes. Bei uns konnten sie eine Europa-Tournee an nur einem Abend spielen.

prisma: Gibt es ein persönliches Lieblingskonzert aus den "Rockpalast"-Nächten?

Rüchel: Dutzende! Es sind viel zu viele, als dass ich mich auf eines festlegen könnte. Gleichzeitig bin ich kein nostalgischer Typ. Mir ist immer das Hier und Jetzt wichtig. Als ich bei Little Steven in Frankfurt war, der wie gesagt zum Freund geworden ist, gab es natürlich unzählige Anknüpfungspunkte an früher. Trotzdem, merkte ich, war mir an jenem Abend vor allem dieses Konzert in der Gegenwart wichtig. Und es war ein tolles Konzert. Ich bin nicht der Typ, der in der Vergangenheit lebt.

prisma: Sie sind seit 2003 in Rente. Womit beschäftigen Sie sich?

Rüchel: Bis vorletztes Jahr habe ich noch für die WDR mediagroup gearbeitet. Ich bearbeitete "Rockpalast"-Nächte für ihre DVD-Veröffentlichung. Da saß ich jeden Monat vier Tage lang in Schneideraum und habe mich mit dem beschäftigt, was in knapp 40 Jahren an Konzerten zusammen kam. Außerdem bin ich immer noch auf Tour ...

prisma: Das müssen Sie erklären.

Rüchel: Ich trete regelmäßig mit der Essener Band 78 Twins auf. Deren Mitglieder waren noch nicht geboren, als die erste "Rockpalast"-Nacht lief. Die Band spielt klassischen Rock - und ich erzähle Geschichten aus 40 Jahren dazu. Damit ziehen wir durch die Clubs der Region, und das macht großen Spaß. Da kommen immer so 100, 120 Leute. Mit denen teile ich meine Erinnerungen, die irgendwie auch ihre sind.

prisma: Also sind Sie doch ein bisschen Nostalgiker?

Rüchel: Es geht um Erinnerungen, die für viele Menschen eines bestimmten Alters sehr wichtig sind. Bei den Konzerten und Lesungen habe ich oft das Gefühl, das Publikum und ich könnten auch die Plätze tauschen. Weil die Leute ebenfalls sehr markante Erinnerungen an diese Nächte haben. Ich glaube, der "Rockpalast" hat sich auf sehr besondere Art in das kollektive Gedächtnis dieser Altersgruppe reingeschlichen. Für viele, die diese Nächte damals gesehen haben, sind die Erinnerungen daran wirklich wichtig.


Quelle: teleschau - der mediendienst

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