#ichbinhier-Gründer

Hannes Ley: "Man muss cool bleiben, auch im Shitstorm"

von Frank Rauscher

Es war wohl die sarkastischste Laudatio aller Zeiten: Sie finde ja, erklärte die Schriftstellerin und Bloggerin Ronja von Rönne beim Grimme-Online-Award 2017, also vor Deutschlands versammelter Digitalkompetenz, "dass das Internet eigentlich wieder abgeschafft gehört". Denn sie "kenne keinen Ort, an dem so viel Hass und Beleidigung gesammelt werden". Sprach's und überreichte den Preis in der Kategorie "Spezial" an Hannes Ley, den Gründer der Facebookgruppe #ichbinhier, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, Pöbeleien und Verrohung in den Kommentarspalten mit organisierter Gegenrede die Stirn zu bieten.

Digital-Stratege Ley, der mit der inzwischen 37.000 Mitglieder starken Initiative eine Idee aus Schweden adaptiert hat, will weder das Internet noch die Sozialen Medien abschaffen, sondern, wie der selbstständige Unternehmer es formuliert, "teamorientiert Menschen in die Brandherde für Hassrede bringen", auf dass sie gemeinsam gezielt gegen die Wut anschreiben.

Im Interview erklärt der frischgebackene Autor ("#ichbinhier – Zusammen gegen Fake News und Hass im Netz"), warum er diesen Kampf führt und was bei der Auseinandersetzung für die Gesellschaft wirklich auf dem Spiel steht.

prisma: Herr Ley, wie viel Zeit verbringen Sie auf Facebook?

Hannes Ley: Im vergangenen Jahr waren es noch rund vier Stunden am Tag. Aber ich bessere mich – ich habe mir vorgenommen, die aktive Nutzung aus beruflichen Gründen etwas einzuschränken (lacht). Natürlich bleibe ich den ganzen Tag eingeloggt – auch wegen meiner Arbeit für #ichbinhier.

prisma: Wie darf man sich die vorstellen?

Ley: Viel Kommunikation! Es läuft fast wie bei einer professionellen Online-Redaktion: Wir scannen permanent die Kommentarspalten und entscheiden dann, wo und wie wir aus der Gruppe heraus aktiv werden, um überhandnehmender Hassrede etwas Konzertiertes entgegenzusetzen. Morgens starten wir die ersten Aktionen in den Facebook-Kommentarspalten, dann geht es bis in den Abend.

prisma: Mit welcher Strategie gehen Sie vor?

Ley: Wir haben in unserer geschlossenen Gruppe derzeit etwa 37.000 Mitglieder, alle können im sogenannten täglichen "Lagerfeuer" mitposten: Dort sammeln wir Links zu Diskussionen und Beiträgen, die unsere Mitglieder für bedenklich halten. Wirklich aktiv in den Foren sind ein paar tausend Mitglieder, sie kommentieren im Namen von #ichbinhier und haben dabei im Grunde nur ein paar Regeln: Bleibt höflich, bleibt sachlich, wertet niemanden ab, versucht den Dampf rauszunehmen.

prisma: Und Sie?

Ley: Ich passe mit auf, mache mit – je nachdem. Ob am Rechner oder Phone: Mit einem Auge bin ich fast immer online. Aber ich muss mich auch abgrenzen. Ich führe ein Unternehmen, da kann ich nicht den Vollzeit-Redaktionsleiter von #ichbinhier geben. Durchaus eine disziplinarische Herausforderung, sich nicht ständig von der Medienwalze überrollen zu lassen.

prisma: Spielen Sie nicht manchmal mit dem Gedanken, Facebook einfach Facebook sein zu lassen und auszusteigen?

Ley: Ja. Sagen wir, manchmal bin ich nah dran.

prisma: Am Ausstieg?

Ley: Nein, nein – nur, darüber nachzudenken (lacht). Vor allem, weil ich mit meiner Kapazität an Grenzen stoße: klassische Berufskrankheit von Medienmenschen heutzutage. In mir überwiegt aber die Zuversicht. Sonst hätte ich eine Initiative wie #ichbinhier nicht gegründet. Meine Haltung ist: Facebook ist als Medium immer noch sehr neu, wir haben uns nur nicht darauf eingestellt, sind noch unsicher, wie wir damit umgehen sollen. Vor zehn Jahren war ich euphorisch, was die Möglichkeiten angeht: Was für eine Demokratisierung und Internationalisierung unserer Kommunikation! Ich bin voll drauf eingestiegen – damals war alles super, auch die Datenschutzproblematik war kein Thema.

prisma: Und heute? Sie sind mit Ihrer Unternehmensberatung als Kommunikationsexperte und Digitalstratege für Marketing seit Jahren nah an den Sozialen Medien dran ...

Ley: Vieles ist immer noch wie ein Traum: Weltweit teilen und scannen wir den heißesten Scheiß. Wir sehen Nachrichten und Videos ohne Ende, konsumieren Medien, wo und wann immer wir wollen. Denken Sie beispielsweise an die fantastischen Möglichkeiten, die uns Netflix bietet – wer hätte an so etwas vor zehn Jahren gedacht! Andererseits beobachte ich mit zunehmender Sorge, welche kruden Auswüchse es gibt. Was seit drei, vier Jahren in den Kommentarspalten abgeht, erschüttert mich. Deswegen habe ich #ichbinhier gegründet.

prisma: Wann genau haben Sie sich vorgenommen, aktiv zu werden?

Ley: Es begann 2014, als sich zur Berichterstattung über die russische Annexion der Krim-Halbinsel und der Ukraine-Krise immer mehr Trolle in den Foren herumtrieben. Ich dachte damals, wie eigentlich alle Leute, die ich kenne, was da passiert ist, ist doch klar: Was Putin macht, ist völkerrechtswidrig. Doch plötzlich gab es in den Kommentarspalten unter den Berichten hunderte Stimmen, die behaupteten, dass das Putins gutes Recht sei und angeblich der Westen mit seinen ständigen Provokationen eine Mitschuld an der Entwicklung trage. Das hat mich damals zutiefst irritiert. Nach und nach kam ich dahinter, dass das gesteuerte Kampagnen sind – und auch weil ich bei zarten Gegenkommentarversuchen von der Trollübermacht niedergemacht wurde, verstand ich die Welt nicht mehr.

prisma: Also riefen Sie #ichbinhier ins Leben?

Ley: Später. Erst mal habe ich gar nichts gemacht. Ich war paralysiert – und zugleich professionell fasziniert von diesem sich ausbreitenden Phänomen. Dann kam die Flüchtlingskrise, der Ton wurde noch rauer. Beleidigungen und Hass wurden salonfähig – vor allem dort, wo die Medien keine Moderatoren einsetzen. Irgendwann habe ich begriffen, dass man diese neue Diskussionskultur nicht nur analysieren und ernst nehmen muss, sondern, dass man der organisierten gezielten Stimmungsmache nur etwas ebenso Organisiertes entgegensetzen kann. Wir müssen aufpassen, sonst wird es finster.

prisma: Wobei es da auch um das sensible Thema Meinungsfreiheit geht: Wer hat bitteschön das Recht, anderen die Meinung zu verbieten?

Ley: Schon klar, – das ist immer der erste Reflex der #ichbinhier-Kritiker. Aber wir sind nicht die Meinungspolizei, und es ist bestimmt nicht unsere Intention, gegen Meinungen anzuschreiben. Sofern diese vernünftig ausgetauscht werden, habe ich kein Problem mit klaren kritischen Meinungsäußerungen. Wir sind bei #ichbinhier definitiv überparteilich und längst nicht so eine homogene Sekte, wie man es uns gerne unterstellt. Tatsächlich haben wir intern diverse Haltungen zu den Fragen rund um Integration und Flüchtlingspolitik – ich persönlich stimme in weiten Teilen auch nicht mit der Politik von Angela Merkel überein. Aber darum geht es nicht. Wir wollten eigentlich gar nicht politisch verstanden werden, sondern sind im Sinne einer anständigen Diskussionskultur angetreten. Rechts / Links – das war nie unser Thema.

prisma: Warum kam es dann anders?

Ley: Das geschah zwangsläufig: Es ist nun mal keine Meinung, den Wunsch zu äußern, die Flüchtlinge mögen in ihren Schlauchbooten im Mittelmeer doch tunlichst ersaufen, auf dass nur nicht noch mehr von diesen "Invasoren" kommen. So etwas hätte ich bis vor vier Jahren nicht für möglich gehalten, aber man liest es tagtäglich: Das ist blanker, rassistisch motivierter Hass und eine zutiefst menschenverachtende, empathiefreie Einstellung. Gegen so etwas richten wir uns. Nicht, weil wir Gutmenschen sind, sondern weil es nötig ist. Und schon ist #ichbinhier hochpolitisch, und wir sind für jene, die so etwas Ungeheuerliches posten, linksversifft und systemgesteuert. Da wird aus vollen Rohren gehetzt. Aber ein Stückweit gewöhnt man sich daran. Man muss cool bleiben, auch im Shitstorm, hilft ja nix.

prisma: Scheinbar hat jeder heute zu allem eine Meinung, die er kundtun möchte – jedenfalls sehen sehr viele Menschen in Facebook die ideale Plattform, um dem Rest der Welt ihre persönliche Sicht der Dinge mitzuteilen. Warum eigentlich?

Ley: Das Phänomen, dass sich der Stammtisch ins Netz verlagert hat, ist wohl in erster Linie technikgetrieben. Facebook hat eine angenehme Usability, die Kommentarfunktion ist extrem convenient. Dazu kommt der menschliche Aspekt: Likes sind wie Streicheleinheiten, sie tun uns gut, und jeder findet leicht heraus, wie er Likes generiert. Wer viele Likes hat, darf glauben, dass er wichtig ist. So wärmen auch die kältesten Menschen ein bisschen ihr Herz. Facebook ist eine Bühne, und jeder kann sich austoben. Das ist Psychologie. Das Problem ist, dass es fast keinerlei Kontrolle gibt.

prisma: Immerhin gibt es jetzt das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ...

Ley: Ja, aber das ist noch nicht viel mehr als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Gefordert wären im Grunde die Medien. Aber die Medien, die ihre Berichterstattung auf Facebook posten, haben keine Handhabe, die gängigen Filter reichen nicht aus, und sie können die Kommentarfunktion nicht abschalten. Das lässt Facebook nicht zu – vermutlich weil die Gründer selbst nicht ahnten, welche Geister sie da mal rufen würden. Da die Medienhäuser auf den über Facebook generierten Traffic angewiesen sind, leben sie mit dem Dilemma. Einige setzen Moderatorenteams ein, so wie es die "Welt" oder auch das ZDF und die ARD tun, um wenigstens etwas Druck aus dem Kessel zu nehmen. Andere hingegen befeuern die Wut bewusst mit Stimmungsmache und Clickbait-Teasern ... Sie würden es nicht zugeben, aber die Verantwortlichen wissen, was sie tun. Und das ist nichts Gutes für die Stabilität unsere Demokratie.

prisma: Sie erledigen mit #ichbinhier ein Stückweit auch den Job der Medien ...

Ley: Natürlich. Ich würde mir schon wünschen, dass die großen Verlage, vor allem auch die privatrechtlichen Medienhäuser, noch viel mehr unternehmen, um Hatespeech aus ihren Kommentarspalten zu verbannen. Mit dem Verweis auf die Netiquette ist es nicht getan, es wäre was, wenn diese auch eingehalten würden.

prisma: Aber wie soll das erreicht werden?

Ley: Ich bin ein großer Verfechter der Moderation. Da muss mehr getan werden. Denn auf der anderen Seite wird ja auch sehr professionell gearbeitet. In Deutschland hat unter den wichtigen Parteien bisher nur die AfD begriffen, wie das mit den Sozialen Medien wirklich funktioniert. Die waren schnell dabei, und sie sind sehr gut – auch weil sie das Thema Social Media sehr dezentral und regionalisiert angehen. Sie verstehen es, ihre Anhänger in Stimmung zu bringen.

prisma: Was nicht verwerflich ist.

Ley: Nein, das ist für mich, vom Inhalt abgesehen, sogar vorbildlich. Wir wenden uns mit unserer Arbeit auch gar nicht explizit gegen die AfD oder eine andere bestimmte Partei. Was für mich grenzwertig ist, das ist die gezielte Flutung und Vereinnahmung der Kommentarspalten – und das geschieht derzeit ausschließlich von rechtsaußen. Unsere Techniknerds haben das gut erforscht.

prisma: Was genau?

Ley: Wenn Focus-Online einen Artikel zum Thema Flüchtlinge oder Ausländerkriminalität verlinkt, marschiert binnen 60 Minuten die rechte Fraktion in massiver Stärke ins Facebookforum, um einschlägige Kommentare abzusetzen. Wir haben herausgefunden: 50 Prozent der Kommentare, die dort geschrieben und gelikt werden, stammen von nur fünf Prozent der dort versammelten User. Und jeder, der sich dem Ganzen schon einmal ausgesetzt hat, weiß, wie schnell sich das Gefühl für Mehrheitsverhältnisse verschiebt. Man kommt sich plötzlich mit einer Mainstreamhaltung als Exot und verdammt einsam vor. Da wird organisiert gearbeitet, das Ziel ist die Manipulation. Aber genau das machen wir auch mit #ichbinhier – der Unterschied ist der Ton und dass wir es zugeben – und uns mit dem Hashtag kennzeichnen.

prisma: Man sieht die #ichbinhier-Mitglieder nicht mehr in jedem Forum so zahlreich agieren wie noch vor einigen Monaten ...

Ley: Das ist richtig beobachtet. Wir haben intern viel darüber diskutiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass es Sinn macht, nicht über jedes Stöckchen zu springen. Wir wollen uns nicht instrumentalisieren lassen – also jenen Portalbetreibern, die auch bei den sensibelsten Themen nur auf Clicks aus sind, zu noch mehr Traffic verhelfen, indem wir die Diskussion in ihrem Forum befeuern.

prisma: Das Geschäftsmodell der Onlinemedien heißt aber nun mal Traffic!

Ley: Dagegen wäre auch nichts zu sagen. Doch wenn Hass, oder sagen wir: Emotion zum Geschäftsmodell wird, und das ist genau das, was im Online-Journalismus auf breiter Basis passiert, führt das mit Karacho zur weiteren Polarisierung der Gesellschaft. Kein Medium, auch kein einzelner Journalist, ist da frei von Verantwortung. Alle Medien haben einen Bildungsauftrag. Es geht um viel, und nicht nur ARD und ZDF mit ihren großen Programmen stehen in der Pflicht, immer wieder für Ausgleich und Differenzierung zu sorgen, aufzuklären und zu informieren und so die Mitte der Gesellschaft stabil zu halten. Aber momentan bewegt sich alles nur noch weg von der Mitte: Wir haben es zunehmend mit Lagern zu tun. Lager, die nicht kommunizieren und immer unversöhnlicher werden. Jeder bleibt bei seinem Standpunkt und tauscht sich nur noch mit Gesinnungsgenossen aus. Der durchschnittliche Hetzer weiß vermutlich nicht mal mehr, dass er ein solcher ist.

prisma: Wenn Sie jene, die schon eine Meinung haben, ohnehin nicht umstimmen können, für wen machen Sie #ichbinhier dann überhaupt?

Ley: Grob: Unsere Zielgruppe sind nicht die Rechten, es geht um die digitale Zivilgesellschaft, die schweigende Mehrheit, all jene, die sich in den Kommentarspalten herumtreiben und vor Schreck stumm bleiben. Diese Leute sollen sehen, Rechtsaußen ist nicht der neue Mainstream. Wir geben den digitalen Schweigern Bestärkung: das Gefühl, dass sie nicht alleine sind, dass es auch in den Foren Menschen gibt, die eine differenzierte Diskussion schätzen. Außerdem wollen wir mit unseren Beiträgen auf die Zusammenhänge zwischen Online-Kommentaren und realen Ereignissen hinweisen. Da gibt es bedenkliche Wechselwirkungen – siehe Cottbus, siehe Kandel. Deshalb lohnt sich der Einsatz immer. Es wäre fatal, nicht mehr dagegenzuhalten, denn für mich ist die Kommentarspalte der öffentliche Raum, und den dürfen wir nicht aufgeben.

prisma: Was muss passieren, dass wir online zu einer vernünftigen Diskussionskultur finden?

Ley: Es braucht den Ansatz in der Bildung – Stichwort: Medienkompetenz. Ich bin durchaus zuversichtlich, weil schon einiges passiert. Die Regierung stellt Mittel für neue Schulkonzepte bereit. Und auch wir sind aktiv: Wir gehen mit #ichbinhier in die Schulen, um den Kindern beizubringen, wie man ordentlich online diskutiert. Ich sehe also nicht schwarz. #ichbinhier lebt vom Optimismus, nicht vom Fatalismus (lacht). Meine Agenda ist ja nicht der Facebook-Krieg.

prisma: Aber genau das unterstellen Ihnen die #ichbinhier-Kritiker.

Ley: Ich weiß. Aber ich will ganz sicher keinen Info-War, sondern zeigen, dass es in Deutschland eine Mehrheit gibt, die einer liberalen, toleranten, demokratischen Gesellschaft leben möchte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

Das könnte Sie auch interessieren