ESC-Experte Lukas Heinser im Interview

Lukas Heinser ist seit zehn Jahren für den legendären ESC-Moderator Peter Urban tätig. In seinem Buch "Eurovision Song Contest: Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten" hat der Reporter und Autor sein geballtes Wissen über den Wettbewerb zusammengetragen. Anlässlich des diesjährigen ESC haben wir Lukas Heinser interviewt und mit ihm über den Eurovision Song Contest 2023 gesprochen.
Übrigens: Alle Infos zu den Teilnehmern und der Übertragung des diesjährigen ESC finden Sie hier!
Hatten Sie vor dem Schreiben des Buches einen Lieblingsmoment beim ESC, und hat sich das nach dem Schreiben des Buches verändert?
Der allererste ESC, den ich als Reporter live vor Ort erlebt habe, war der Song Contest 2010 in Oslo, als Lena Meyer-Landrut für Deutschland gewonnen hat. Stefan Niggemeier und ich hatten diese Veranstaltung mit unserem Videoblog „Oslog“ aus nächster Nähe verfolgt und am Ende gewann diese sympathische junge Frau diesen absurd-tollen Wettbewerb. An diese Eindrücke kann dann auch in fast 70 Jahren ESC-Geschichte nichts drankommen, was man irgendwie im Archiv recherchiert hat.
Sie behandeln in Ihrem Buch populäre Irrtümer, die sich um den ESC ranken. Gibt es darunter einen Irrtum, der Sie selbst überrascht hat?
Viele Leute, darunter nicht wenige Journalist*innen, behaupten ja gerne, der ESC habe „früher noch Grand Prix“ geheißen. Das ist teilrichtig, nämlich falsch. Tatsächlich hatte die EBU die Veranstaltung in ihren Dokumenten von Anfang an als „Eurovision Song Contest Grand Prix“ bezeichnet, was ja auf charmante Art irgendwie beides ist — wegen der Zweisprachigkeit der Rundfunkunion aber auch als „Grand Prix Eurovision de la Chanson Européenne“.
„Grand Prix de la Chanson“ hieß die Veranstaltung exakt ein Mal, nämlich 1967 in Wien, danach hieß der Song Contest offiziell tatsächlich nie mehr „Grand Prix“: Wenn französischsprachige Länder wie Frankreich, Luxemburg, Belgien und die Schweiz den Wettbewerb gewannen und entsprechend ausrichten durften, taten sie das stets als „Concours Eurovision de la Chanson“. Von daher: kein moderner, anglophoner Umbenennungswahn, wie manche immer noch vermuten.
Wie würden Sie Ihr Buch in einem Satz zusammenfassen?
Eine hoffentlich amüsante Einführung in die bunte Welt des Song Contest für Menschen, die mit dieser Veranstaltung sympathisieren, aber noch nicht alles wissen.
Gibt es überhaupt noch Vorkommnisse, die Sie in Bezug auf den ESC überraschen können?
Es gibt immer wieder Überraschungen: Mit der hohen musikalischen Qualität der letzten beiden Jahrgänge hätte ich vor zehn Jahren im Leben nicht gerechnet — da waren die meisten Songs im besten Fall gut produzierte Popsongs. Inzwischen ist die musikalische Bandbreite viel größer und viele Acts sind in ihrer Heimat etablierte, ernst genommene Künstler*innen.
Auch dass die Solidarität der Menschen in Europa mit der Ukraine so groß war, dass das kriegsgebeutelte Land 2022 in fast jedem Jahr das Publikums-Voting und damit den ganzen ESC gewonnen hat, hatte ich so nicht vorhergesehen, aber es hat mich sehr gefreut.
Sollten die Teilnehmer der jeweiligen Länder wieder Songs in ihrer eigenen Landessprache vortragen?
Von den letzten fünf Siegertiteln war einer auf Portugiesisch, einer auf Italienisch und einer auf Ukrainisch. Ich denke, das zeigt, dass man mit dem richtigen Song die Menschen in ganz Europa erreichen kann, unabhängig von der Sprache.
Man darf auch nicht vergessen, dass wirklich viele Menschen in wirklich vielen Ländern inkl. Deutschland gar nicht so gut Englisch können, dass sie jetzt ganz genau verstehen würden, was die Leute auf der ESC-Bühne oder im Radio da eigentlich singen. Englisch war eben lange die vorherrschende Sprache in der Popmusik, aber das ändert sich ja gerade auch.
Welchen Stellenwert hat die politische Dimension des ESC für die Veranstaltung und die Teilnehmerländer?
Der erste ESC fand 1956 in der Schweiz statt und Deutschland war, elf Jahre nach Kriegsende, dabei. Der allererste deutsche Beitrag stammte von Walter Andreas Schwarz, der das Konzentrationslager Holzen in Niedersachsen überlebt, aber dort seine Eltern verloren hatte, und sein Lied „Im Wartesaal zum großen Glück“ beklagte die Verdrängungskultur der Nachkriegszeit. Wer also eine „Politisierung des ESC“ in den letzten erkannt haben will, kennt die Veranstaltung und ihre Geschichte schlecht.
Es ist meine tiefste Überzeugung, dass der Song Contest, zusammen mit dem UEFA-Pokal, mehr für das paneuropäische Gemeinschaftsgefühl getan hat als die Europäische Union. Wir sprechen heute ständig über gesellschaftliche Fragmentierung, aber an drei Abenden im Mai sitzen die Menschen in rund 40 Ländern vor dem Fernseher und finden vielleicht plötzlich ein Lied aus einem Land toll, das sie nicht mal auf der Karte finden würden. Dafür ist der Song Contest 2016 völlig zurecht mit der Aachener Karlsmedaille ausgezeichnet worden und ich finde, der Friedensnobelpreis wäre nicht die absurdeste Idee.
Was sind Ihre Zukunftsprognosen für den ESC, und wie wird sich die Veranstaltung Ihrer Einschätzung nach in den kommenden Jahren entwickeln?
In den letzten Jahren hat sich sehr viel getan: Måneskin, die 2021 für Italien gewonnen haben, sind internationale Megastars; der armenische Beitrag von 2022, „Snap“ von Rosa Linn, wurde dank Social Media zu einem weltweiten Hit, der im Radio läuft, obwohl er beim ESC „nur“ auf Platz 20 kam; Deutschland schickt dieses Jahr mit Lord Of The Lost einen Act, dessen aktuelles Album auf Platz 1 der Charts war. Ich glaube, dass die Unterscheidung zwischen Song Contest und „normaler“ Musik, die es lange gab (und in manchen Köpfen noch gibt) immer weiter nachlassen wird und wir noch mehr etablierte Acts beim Song Contest sehen werden.
Zum Schluss ist Ihre Kreativität gefragt: Wenn Sie eine Zeitmaschine hätten und jede Epoche des ESC besuchen könnten, welche würden Sie wählen und warum?
Definitiv die Premiere des Song Contest 1956 in Lugano. Nicht nur, weil es eine etwas biedere, hüftsteife Veranstaltung in Abendgarderobe war, die nur sehr wenig mit dem durchchoreographierten, bunten ESC zu tun hat, den wir heute kennen; sondern auch, weil es keinen Fernsehmitschnitt der Veranstaltung gibt und man sich die Sendung also auf keinem anderen Wege noch einmal anschauen kann.
Buchtipp: "Eurovision Song Contest – Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten" – Lukas Heinser – Klartext Verlag – 16,95€