Doku über O.J. Simpson: Filterblasendenken vor 25 Jahren
US-Filmemacher Ezra Edelman machte aus dem "Jahrhundertprozess" gegen O.J. Simpson ein fünfteiliges Doku-Meisterwerk. Wer das Phänomen "Fake News" verstehen will, sollte "O.J. Simpson: Made in America" sehen.
Seinen 70. Geburtstag verbrachte der Strafgefangene Orenthal James Simpson hinter den Gittern des Lovelock Correctional Center in Nevada. Dort saß der ehemalige Footballspieler und Filmstar ein, weil er zwei Sammler von Fan-Artikeln mit Waffengewalt zur Herausgabe persönlicher Erinnerungsstücke zwingen wollte. 2017 wurde O.J. Simpson, wie alle Welt ihn nennt, auf Bewährung aus der Haft entlassen. Die weit berühmtere Tat, für die er nie strafrechtlich verurteilt wurde, bestreitet er noch heute.
"Die Leute glauben mir das oft nicht, aber ich könnte jederzeit neben dem echten Mörder sitzen, ohne es zu wissen", ließ Simpson unlängst einen Reporter des Magazins "The Atlantic" wissen. In seiner Wahlheimat Las Vegas verbringe er nach überstandener Corona-Infektion die meiste Zeit mit Golfen und der Erwiderung öffentlich bekundeter Zuneigung. "Die Leute wollen mir Drinks ausgeben, ich muss dauernd Selfies mit Fans machen. Frauen umarmen mich."
Es ist die absurd anmutende Pointe einer Geschichte, die vor 27 Jahren mit einem heute noch nicht offiziell aufgeklärten Doppelmord begann – und die weit mehr ist als nur ein amerikanischer Kriminalfall. Den "Prozess des Jahrhunderts" sowie seine Vor- und Nachwehen hat der US-Filmemacher Ezra Edelman 2016 zu einem fast acht Stunden langen Doku-Meisterwerk collagiert, das geschnitten ist wie eine moderne Fernsehserie. Nach einer TV-Premiere bei ARTE vor vier Jahren zeigt nun das ZDF den Fünfteiler "O.J. Simpson: Made in America" in seiner Mediathek und auf dem Spartenkanal ZDFinfo.
Wer hierzulande bei Sky die hervorragende TV-Serie "The People v. O. J. Simpson" sah – auch sie datiert aus dem Jahr 2016 -, dem wird in der Mammut-Doku vieles vertraut vorkommen. Protagonisten, Aussagen, Schlüsselszenen aus dem Mordprozess. Schließlich wurden sämtliche Geschehnisse im Gerichtssaal live im Fernsehen übertragen – die Urteilsverkündung sahen 150 Millionen Zuschauer weltweit. Bereits O.J. Simpsons Flucht im weißen Ford Bronco auf dem Interstate Highway 405 war ein von Hubschrauberkameras live in die Wohnzimmer gesendetes TV-Ereignis. Es war die Stunde, in der die ganze verheerende Kraft der Massenmedien entfesselt wurde.
O.J. Simpson stieg in die High Society auf
Ezra Edelmans Aufarbeitung setzt indes viel früher ein als bei den Geschehnissen der Jahre 1994 und 1995. Er erzählt den Aufstieg des talentierten Footballspielers O.J. Simpson zum Sport- und Unterhaltungsstar, der sich jenseits aller Rassengrenzen wähnte: "Ich bin nicht schwarz, ich bin O.J.", lautet das wohl berühmteste Zitat des allseits beliebten Charmeurs, der Mitglied im Golfklub wurde und Teil der High Society von Brentwood war, dem Reichenvorort von Los Angeles.
Parallel erzählt der Film von den Rassenunruhen im Kalifornien der 80er- und 90er-Jahre. Von einem Rassismus, der beim LAPD vonseiten des Polizeipräsidenten quasi öffentlich abgesegnet wurde. Von Willkür und überzogener Gewaltanwendung. In diesem Zuge auch vom Fall des schwarzen Taxifahrers Rodney King, der nach einem Geschwindigkeitsvergehen im März 1991 von Polizeibeamten krankenhausreif geprügelt wurde. Obwohl ein Hobbyfilmer den Exzess dokumentiert hatte, wurden die Beamten später freigesprochen.
Wer wissen will, warum der schwarze Sportstar O.J. Simpson vier Jahre später trotz erdrückender Beweislast gleichfalls freigesprochen wurde vom Vorwurf des Mordes an seiner weißen Ex-Frau Nicole Brown Simpson und ihrem Begleiter, dem Kellner Ronald Goldman, kommt nicht umhin, den Urteilsspruch der überwiegend schwarzen Geschworenenjury im zeitgeschichtlichen Kontext zu sehen.
Mit Unmengen an Archivmaterial und Zeitzeugeninterviews (unter anderem sprechen Freunde Simpsons, Geschworene, Anwälte und die damalige Chefanklägerin Marcia Clark) rollen die fünf 90-minütigen Doku-Teile die Hintergründe eines Freispruchs auf, der Amerika noch heute entzweit. Mehr noch: Am Fall O.J. Simpson lassen sich frappierende Entwicklungslinien ins sogenannte "postfaktische Zeitalter" ziehen, in dem wir heute leben.
Damals wurde es erstmals so drastisch offenbar: dass unterm Brennglas der medialen Öffentlichkeit eben nicht die Wahrheit zum Vorschein kommt, sondern dass sie überlagert wird von Geschichten, die Menschen gerne glauben möchten. Darunter auch Verschwörungserzählungen, wie sie den Ermittelnden damals unterstellt wurden. Filterblasendenken heißt so etwas heute, und hätte es den Begriff "Fake News" schon vor gut 20 Jahren gegeben, er wäre ziemlich strapaziert worden.
In diesem Sinne lässt sich ein lehrreicheres und auch mitreißenderes Fernsehprogramm als "O.J. Simpson: Made in America" kaum finden im Vorweihnachtsprogramm des Jahres 2021. Im Februar 2017 wurde das kolossale Werk bei der Oscarverleihung als Bester Dokumentarfilm ausgezeichnet.
ZDFinfo zeigt "O.J. Simpson – Made in America" am Dienstag, 14.12., ab 23.15 Uhr. In der ZDF-Mediathek sind alle fünf Doku-Teile schon ab Montag, 13.12., abrufbar.
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH