Schauspieler Erkan Gündüz

"Bei der Integration entwickeln wir uns zuletzt eher zurück"

von Frank Rauscher

Seit dem Rücktritt von Mesut Özil aus der Nationalmannschaft wird die Integrationsdebatte heftig wie selten zuvor geführt. Schauspieler Erkan Gündüz, bekannt aus der "Lindenstraße", plant nun eine Dokumentation zu dem Thema.

"Gibt es Kriterien, um ein ganzer Deutscher zu sein, denen ich nicht gerecht werde?" – Es sind Sätze wie dieser, die das vielfach als larmoyant abgetane, aber wohl selten in Gänze erfasste Twitter-Statement des zurückgetretenen Fußball-Nationalspielers Mesut Özil eben doch lesenswert machen. Nicht nur, aber auch die verstörend heftige Diskussion zur "Causa Özil" und die darauf folgende "#Metwo"-Initiative in den Sozialen Medien warfen Fragen auf: Warum gibt es in Deutschland augenscheinlich ein akutes Integrationsproblem mit vielen türkischstämmigen Mitbürgern? Was bricht sich hier Bahn – und mit welchen Folgen?

Der Schauspieler Erkan Gündüz sieht sich auch dank seiner prominenten Rolle als bestens integrierter Deutschtürke in der "Lindenstraße" (sonntags, 18.50 Uhr, ARD) plötzlich mittendrin in einer Debatte, die ihm keine Ruhe mehr lässt. Einer Debatte, der sich beide Seiten nun endlich offen stellen müssen, wie er meint. Der Star, der 1972 in Iskenderun in der Türkei geboren wurde und 1978 als Kind mit seinen Eltern und zwei Brüdern nach Deutschland kam, kennt sich mit beiden Seiten des Lebens in Deutschland aus und offenbart einen Blick ohne Schwarzweiß-Denken und einseitige, pauschale Vorwürfe.

prisma: Sie spielen seit 1999 den Deutschtürken Murat Dagdelen in der "Lindenstraße" ... Was hat Ihnen die Rolle gebracht?

Erkan Gündüz: Glück! Sie hat mein halbes Leben mitbestimmt, mich bekannt gemacht. Am Set habe ich viele tolle Leute und neue Freunde kennengelernt. Dabei hätte ich nie gedacht, dass es mal so kommen würde. Als ich zum Casting ging, wollte ich nur arbeiten, spielen – ich war jung und offen für vieles, träumte von einem Engagement als Seriendarsteller, vielleicht für ein Jahr, wenn's gut läuft. Doch schnell war klar: Das ist mehr als ein Job. Das war Liebe.

prisma: Das müssen Sie erklären!

Gündüz: Schon das Casting lief so überragend, dass ich sage, da muss Schicksal im Spiel gewesen sein. Es war mein Tag. Und heute ist das einfach meine Rolle. Da lag von Anfang an diese besondere politische Komponente drin, das mochte ich. Hans W. Geißendörfer schuf 1985 ja ein Stück Fernsehkultur, er setzte Jahre lang die Themen in unserem Land. Auch mit meiner Figur wollte er etwas Wichtiges erzählen und ein Stück Aufklärung in die Integrationsdebatte einbringen. Die war damals ja nicht weniger kompliziert, sie wurde nicht so laut geführt. Heute steht Murat mit seiner Geschichte auf jeden Fall für etwas!

prisma: Murat ist ein echter Kumpeltyp. Aber anfangs hatte er es sehr schwer ...

Gündüz: Oh ja. Er war auch erst alles andere als ein Sympath, sondern ein aggressiver Kerl, den man heute wahrscheinlich für nicht integrierbar halten würde. Doch dann erhielt er die ein oder andere faire Chance, und irgendwann nutzte er sie. Inzwischen ist er lammfromm, bestens integriert, ein bisschen spießig und sogar deutscher als seine Frau Lisa (gespielt von Sontje Peplow, d. Red.).

prisma: Es ist viel passiert – in Murats Leben aber auch in der Gesellschaft!

Gündüz: Richtig. Murats Geschichte ist, so krass sie manchmal war, in vielerlei Hinsicht beispielhaft für Jungs mit türkischen Wurzeln aus meiner Generation. Und da sind wir genau bei meinem Thema. Ich frage mich: Warum fliegt uns auf einmal die Integrationsdebatte um die Ohren? Warum tun sich Deutsche und Türken heute vielfach so schwer miteinander?

prisma: Ja, warum?

Gündüz: Ich weiß es nicht genau, aber ich suche nach Antworten – auch als Filmemacher. Derzeit plane ich ein eigenes Projekt: eine Dokumentation oder eine Reihe, die hoffentlich zusammen mit dem WDR realisiert und nächstes Jahr ausgestrahlt wird.

prisma: Was wollen Sie erzählen?

Gündüz: Ich setze bei den hier lebenden Türken an: Wieso gibt es unter meinen Bekannten, sogar in meiner Familie, Erdogan-Sympathisanten, und warum bin ich kein solcher geworden? Warum feiern sie ihn, während ihn andere ablehnen? Das Interessante ist, dass das zum guten Teil Menschen sind, die einen ähnlichen Hintergrund und Werdegang hatten wie ich – zumindest bis ich in der "Lindenstraße" gelandet bin.

prisma: Wie würden Sie Ihren Werdegang zusammenfassen?

Gündüz: Als relativ problemlos. Ich fühlte mich als Jugendlicher in Deutschland angenommen und respektiert. Als meine Familie nach Deutschland kam, Ende der 70er-Jahre, fühlte ich mich direkt wohl. Natürlich kam mir ein Streben nach Freiheit zugute. Ich ging bald meinen eigenen Weg, und war dann als Darsteller in einer großen Fernsehserie auch ziemlich privilegiert. Aber ich vermute, wenn ich damals irgendwo als Mechaniker oder Fließbandarbeiter untergekommen wäre, hätte mein Weg auf ähnliche Weise in die Integration geführt.

prisma: Was sind Sie: Deutscher oder Türke?

Gündüz: Ich bin Deutscher. Ohne Wenn und Aber. Ich habe auch nur einen Pass – den deutschen, weil ich schon die Doppelte Staatsbürgerschaft als Teil des Problems ansehe. Man kann kein doppelter Staatsbürger sein, das geht nicht. Daher mag ich auch den Begriff "Deutschtürke" nicht besonders – in dem Wort steckt schon so eine gewisse Haltung drin, dieses deutsche Schubladendenken, das in meinen Augen das Integrationsthema auch so schwierig macht. Meinen Film drehe ich als Deutscher – mit türkischen Wurzeln. Als Filmemacher, aber auch als ganz normaler Mensch, will ich herausfinden, wie es den anderen aus meiner Generation ergangen ist, insbesondere jenen, die jetzt für Erdogan die Fahnen schwenken. Wieso haben die den Schalter nicht umgelegt? Das ist mein Anliegen, die Frage fasziniert mich.

prisma: Das wird eine Doku, die vermutlich kein Deutscher drehen könnte ...

Gündüz: Nee. Ein Deutscher, der sich kritisch mit den Integrationsproblemen der hier lebenden Türken beschäftigt .. Oh je. Dann würden alle wohl sofort die Rassismus-Keule schwingen. Ist natürlich auch symptomatisch für das Problem, das wir hier haben.

prisma: Was ist für Sie das Kernproblem?

Gündüz: Dass wir viel zu lange nicht offen und ehrlich miteinander gesprochen haben! Wir wissen nach all den Jahren immer noch fast nichts voneinander. Dass die Debatte weitgehend von Ahnungslosigkeit geprägt ist, ist für mich auch ein Antrieb bei dem Filmprojekt. Ich will endlich mal völlig unvoreingenommen und ohne polemische Schärfe, sondern mit ehrlichem Interesse herausfinden und zeigen, was los ist. Die Recherchen sind spannend: Ich habe zum Beispiel einen guten Freund, der Erdogan-Anhänger ist. Wir diskutieren und streiten viel, aber wissen Sie was: Am Ende sind wir immer noch Freunde. Warum auch nicht!

prisma: So versöhnlich und offen wird die öffentliche Debatte allerdings nicht geführt ...

Gündüz: Leider wahr. Es wird nur noch rumgeplärrt, man hört sich nicht zu. Daher sehe ich die Integration im Moment auch als gescheitert an.

prisma: Ernsthaft?

Gündüz: Ja. Denn wir entwickelten uns zuletzt eher zurück – sowohl viele Deutsche als auch manche Türken. Meine Hoffnung ruht auf der vierten Generation. Möge sie es besser machen, und möge es ihr besser ergehen. Es gibt ja immer zwei Seiten, genau das kommt mir bei den Debatten zu kurz. Die Deutschen haben von der Mentalität der Türken null Plan, und andersherum ist es genauso: Viele Türken schnallen nicht, warum man hier mit Machogehabe nicht weiterkommt. Man versteht sich nicht, weil man sich nicht verständigt ... In den Sozialen Medien gibt es sowieso keine Verständigung. Aber dass Presse und Fernsehen es kaum besser machen, befremdet mich. Oft habe ich den Eindruck, die befeuern Hetze und Feindseligkeit sogar. Aber wohin soll das führen?

prisma: Wie kann Integration Ihrer Meinung nach gelingen?

Gündüz: Das geht nur individuell. Sicherlich ist es ein schwieriger Spagat, in Deutschland mit türkischem Migrationshintergrund aufzuwachsen: Du fühlst dich erst lange als Türke – nicht nur weil dich die anderen so wahrnehmen, sondern auch weil du stolz bist auf deine Wurzeln und weil deine Familie dich so erzieht. Dann auf einmal bist du eher der Deutsche: Du machst eine Ausbildung oder studierst, bist auf einem eigentlich normalen Weg in die Gesellschaft. Und schließlich, weil dir vielleicht gerade etwas an der deutschen Politik nicht passt oder aus welchen Gründen auch immer, siehst du dich wieder als Türke, wählst womöglich Erdogan ... So geht das bei vielen ein Leben lang hin und her. Diese Probleme sind real, es ist kein leichter Weg. Aber ich bin der Überzeugung, irgendwann muss jeder seine Entscheidung treffen, den Spagat überwinden. Sonst bleibt man heimatlos und wird kein glückliches Leben führen. Wo gehöre ich hin? Welche Werte sind mir wichtig? Ich war mir da auch erst mit Mitte 30 sicher.

prisma: Welchen Reim machen Sie sich darauf, dass Erdogan hierzulande so viel Zulauf hat?

Gündüz: Ich denke, es hat damit zu tun, dass er die Leute in dieser Orientierungslosigkeit abgeholt hat. Er hat vielen hier lebenden Türken ein Selbstbewusstsein gegeben. Stellen Sie sich das doch vor: Du weißt dein Leben lang nicht so genau, wo du hingehörst, bist irgendwie permanent hin- und hergerissen, und plötzlich kommt einer und erklärt dir, dass du wichtig bist und dass alle zusammengehören. Außerdem darf man zwei Dinge nicht unterschlagen: Erdogan, der ja demokratisch gewählt wurde, hatte sich zunächst als erfolgreicher und durchaus weltoffener Wirtschaftspolitiker einen Namen gemacht und vieles zum Guten verändert; und der Putschversuch von 2016 hatte gerade bei den Türken hierzulande eine enorme psychologische Wirkung. Viele sahen aus der Ferne ihre geliebte Heimat bedroht und begrüßten deshalb die rigorosen Maßnahmen Erdogans. So paradox das aus deutscher Sicht klingen mag.

prisma: Die Deutschen verstehen die Welt nicht mehr, weil die Erdoganfans nicht ihren Erwartungen entsprechen ...

Gündüz: Ganz genau so ist es. Die Erwartungshaltung, der Anspruch an die Menschen mit Migrationshintergrund, ist überzogen. Schließlich gehört die Meinungsfreiheit zu den deutschen Werten, die wir immer so hoch halten. Integration funktioniert nicht über Forderungen, sondern nur über leben und leben lassen – in einem gewissen Rahmen natürlich. Die Deutschen bieten den türkischstämmigen Mitbürgern ihre Gesellschaft und ihre großartigen Werte an, und die hier lebenden Türken müssen diese annehmen. So einfach ist das im Grunde.

prisma: Aber Fakt ist, dass sich viele Türken ganz bewusst abschotten.

Gündüz: Leider. Manche können nicht loslassen – aus Angst vor dem Unbekannten oftmals. Da müssen alle mithelfen, dass diese Mauern durchbrochen werden. Aber manchmal funktioniert es nicht – da muss man das eben auch ertragen. So wie bei mir und meine Eltern: Ich hatte vor Jahren den Cut vollzogen, weil meine Familie nicht über ihren Tellerrand schauen konnte und nicht in der Lage war, die deutsche Gesellschaft, speziell auch meine Rolle als Schauspieler richtig zu akzeptieren. Heute habe ich wieder ein liebevolles Verhältnis zu ihnen, weil ich begriffen habe, dass am Ende das Menschliche mehr zählt als der Disput. Die leben in ihrer alten Welt, die sie nicht verlassen können, ich in einer anderen. Wir haben unseren Frieden gemacht. Aber was ich sagen will: Man muss immer etwas hinter sich lassen, wenn man etwas Neues haben möchte. Sonst wird das nichts mit der Integration.

prisma: Fürchten Sie nicht Aggressionen gegen sich, wenn Sie öffentlich als Erdogangegner sprechen?

Gündüz: Nein – damit muss man leben, wenn man seine Meinung äußert. Wir haben hier, finde ich, nicht nur das Recht, unsere Meinung zu sagen, wir haben auch die Pflicht dazu. Davon lebt die freiheitliche Demokratie.

prisma: Was haben Sie gedacht, als Sie zum ersten Mal das Foto vom Treffen der Fußballer Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gesehen haben?

Gündüz: Mir war auf Anhieb klar, dass das Foto etwas auslösen würde. Aber mit dem, was dann kam, hatte ich doch nicht gerechnet ... Ich muss Özil auch in Schutz nehmen, nicht nur weil er so viele Jahre lang erfolgreich für unsere Nationalmannschaft gespielt hat, sondern auch weil er bei Weitem nicht der Einzige war, der hier einen Fehler gemacht hat. Genauso verheerend war doch die Kommunikation des DFB: Die haben es nicht geschafft, klar Stellung zu beziehen beziehungsweise gemeinsam mit Mesut Özil die Sache aus der Welt zu schaffen. Ich bin überzeugt, alles wäre anders gekommen, wenn der Fußballer Özil Rückendeckung durch den DFB gehabt hätte und auch der Mensch mit dieser Situation nicht so allein gelassen worden wäre. Das ist exemplarisch für die Integrationsschwierigkeiten auf gesellschaftlicher Ebene.

prisma: Inwiefern?

Gündüz: Na ja, irgendwann lässt man die Leute fallen, man bemüht sich nicht mehr, wenn man eine gewisses Maß an Unwilligkeit registriert hat. Aber so kommen wir nicht weiter: Man muss die Begegnung, den Dialog, immer weiter suchen, unermüdlich. Integration ist ein Prozess, der niemals aufhört.

prisma: Taten Ihnen die Pfiffe gegen die beiden in den ersten Spielen nach dem Eklat weh?

Gündüz: Ja, das habe ich fast körperlich gespürt – weil ich ein großer Fußballfan bin und nicht verstehen kann, wie man einzelne Spieler so im Regen stehen lässt. Es war ja auch sofort an ihrer Körpersprache und Leistung abzusehen, wie sehr die Spieler das getroffen hat.

prisma: Hätten Sie nur das Foto nicht gemacht ...

Gündüz: Schon klar. Aber bitte: Worüber reden wir hier? Über ein kleines Foto, das, da lege ich mich fest, nicht politisch gemeint war. Es war ein dummer Fehler. Aber die haben keine Straftat begangen – und was ist eigentlich mit einem Olli Kahn, der sich mit saudischen Scheichs ablichten lässt oder Lothar Matthäus, der mit Putin um die Wette strahlt? Das Thema hätte niemals so aufgebauscht werden dürfen. Das war verantwortungslos von den Medien und allen, die diese irrsinnige Debatte mitbefeuert haben.

prisma: Dass man dabei kritisch über die Medien diskutieren kann, steht außer Frage. Aber was ist mit den Spielern, was sagt das über sie und vielleicht über andere ihrer Generation aus?

Gündüz: Dass sie nie richtig angekommen sind in der deutschen Gesellschaft. Das ist leider so. Aber dafür dürfen wir niemanden verurteilen, sondern wir müssen endlich herausfinden, warum es so ist. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass alles noch gut wird – und wenn ich noch 20 Jahre den Murat in der "Lindenstraße" spielen muss (lacht).


Quelle: teleschau – der Mediendienst

Das könnte Sie auch interessieren