"Kinderraub der Nazis – Die vergessenen Opfer"

Warum die Nazis Zehntausende Kinder aus Polen verschleppten

von Andreas Schoettl

Während des Zweiten Weltkriegs verschleppten die Nazionalsozialisten Zehntausende Kinder vor allem aus Polen. Die Kinder wurden in deutschen Familien untergebracht. Eine ARD-Doku beleuchtet dieses wenig bekannte Kapitel der deutschen Geschichte.

ARD
Geschichte im Ersten: Kinderraub der Nazis – Die vergessenen Opfer
Dokumentation • 27.04.2020 • 23:45 Uhr

Sie sind inzwischen in ihren Achtzigern: Menschen wie Jozef Sowa, Hermann Lüdeking und Alodia Witaszek. Sie eint ein Schicksal, das bis heute kaum Gehör und erst recht keine Entschädigung findet. Alle drei wurden während des Zweiten Weltkrieges von den Nationalsozialisten verschleppt, vor allem aus Polen. Zehntausende Kinder wurden so in deutschen Familien untergebracht. Unter ihrer Vergangenheit leiden sie bis heute. Der 86-jährige Sowa, nach dem Mord an seiner Familie erzwungen aufgewachsen in Nazi-Deutschland, erinnert sich: "Mein ganzes Leben fehlte mir die Herzlichkeit, die Umarmung."

Tatsächlich hatten die Nationalsozialisten den Kinderraub aus überfallenen Ländern wie Polen, der Ukraine, Tschechien oder Slowenien beinahe generalstabsmäßig organisiert. Die Autoren Elisabeth Lehmann und Monika Sieradzka belegen das in ihrem Film unter anderem mit Originalzitaten Heinrich Himmlers. Der Reichsführer SS wies 1941 an, "besonders gutrassige kleine Kinder polnischer Familien zusammenzuholen und von uns in besonderen Kinderheimen zu erziehen". Bei einem Vortrag sagte er in erschütternden Worten: "Entweder wir gewinnen das gute Blut, was wir verwerten können, und ordnen es bei uns ein. Oder, sie mögen es grausam nennen, die Natur ist grausam, und wir vernichten dieses Blut."

"Er wollte damit das deutsche Volk aufstocken", sagt Isabel Heinemann. Die Professorin für neueste Geschichte an der Universität Münster rechnet vor, dass es europaweit mehr als 50.000 geraubte Kinder gegeben habe. Rund 20.000 von ihnen stammten nach ihrer Einschätzung aus Polen.

Die Zwangsgermanisierung von Kindern wie Alodia Witaszek sah unter anderem vor, dass sie in NS-Heimen verpflichtend Deutsch lernen mussten. "Man durfte von Anfang an nicht polnisch sprechen. Jeder Verstoß wurde bestraft", erinnert sie sich. Aus Alodia wurde für die Adoption in eine deutsche Vorzeige-Familie sogleich eine Alice Wittke gemacht, ihre tatsächliche Herkunft systematisch vertuscht.

Als junges, blondes Mädchen Alice wurde Alodia in ihrer "neuen" deutschen Familie jedoch sorgsam und liebevoll behandelt. So viel "Glück" hatten andere nicht. Doch es kam zu einem zweiten Bruch. Nach dem Ende des Krieges kamen diejenigen, deren Herkunft rekonstruiert werden konnte, zurück in ihre Heimat. Dort fanden sie sich ein weiteres Mal in einem ihnen fremd gewordenen Land. Vielen wurde ihre Identität als vermeintlich deutsches "Hitler-Kind" vorgeworfen. Wirkliche Wurzeln schlagen konnten so nur die wenigsten.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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