"Tatort": Warum steigen die Obdachlosenzahlen in Europa rasant?
Der Wiener "Tatort: Unten" griff ein brennendes soziales Problem auf – das rasante Ansteigen der Obdachlosenzahlen in (fast) ganz Europa.
Zur Wiener "Notschlafstelle"? Bitte einmal die Wendeltreppe entlang! Und zwar abwärts. Das soziale Gefälle war im Wiener "Tatort" mit dem wegweisenden Titel "Unten" nicht gerade subtil modelliert. Die Sonderermittler Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) kraxelten zwischen den oberen und den unteren Zehntausend soziale Höhenmeter herauf und herunter, dass es einem schwindelig wurde. Auch weil für kakaodampfende Sandler-Romantik nur ganz am Rande Zeit war. Doch stimmt der Befund der Krimi-Macher (Buch: Thomas Christian Eichtinger, Samuel R. Schultschik, Regie: Daniel Prochaska), dass in Wien und anderen Metropolen Europas die Obdachlosen-Zahlen steigen? Und was sind die Gründe?
Worum ging's?
Ein ehemaliger Investigativreporter, der seit Jahren auf der Straße lebte, wurde ermordet aufgefunden. Wie sich im forsch gebauten Verschwörungskrimi herausstellte, war der als "stur" und "jähzornig" verschriene Obdachlose einem Riesenskandal auf der Spur: Mit Unterstützung eines Heimleiters (Michael Pink) und einer Top-Chirurgin (Jutta Fastian) wurden Obdachlose gekidnappt und als Organspender zugunsten zahlungskräftiger Kranker missbraucht.
Organhandel im "Tatort" – gab es das nicht schon einmal?
Ganz recht – ein sehr ähnliches Gruselszenario wurde 2011 im "Tatort: Leben gegen Leben" gezeichnet. Der Hamburger Undercover-Polizist Cenk Batu (Mehemet Kurtulus, von 2008 bis 2012 "Tatort"-Kommissar) ermittelte gegen eine Bande, die Straßenkinder aus osteuropäischen Staaten zum selben infamen Zweck entführte.
Steigen die Obdachlosenzahlen in Europa wirklich?
20.000 "Klienten" pro Jahr zählte der Heimleiter eines Bettenlagers für Obdachlose gegenüber den Ermittlern Eisner und Fellner auf. Und es würden immer mehr. So dürftig die statistische Grundlage bei der Erfassung ist (in Deutschland gibt es etwa keine amtliche Statistik): Dass die Obdachlosenzahlen nahezu überall in Europa steigen, ist unstrittig. EU-weit wird inzwischen von mehr als vier Millionen Menschen ausgegangen, die "auf der Straße" oder in Notunterkünften leben.
In Österreich vermeldete das Sozialministerium bei der letzten offiziellen Bekanntmachung 2016 die Zahl von 15,090 Personen ohne feste Bleibe – 70 Prozent davon entfielen auf die Hauptstadt Wien. Für Deutschland gehen Schätzungen derzeit von rund 678.000 Wohnungslosen aus – ein rasanter Anstieg in den letzten zehn Jahren. In der Schweiz mögen Obdachlose im Alltagsbild weniger sichtbar sein – jedoch gibt es sie auch hier: Der Zürcher Pastor und Sozialwerksstifter Ernst Sieber vermeldete im April 2019 mit 4.801 Übernachtungen den zweithöchsten je gemessenen Wert in der Notschlafstelle beim Zürcher Albisgüetli. Dies hätte die Organisation "kapazitäts- und ressourcenmäßig an die Grenzen gebracht".
Was sind die Gründe für den Anstieg?
Einen starken Anstieg der Obdachlosenzahlen brachte die europäische Flüchtlingskrise von 2015/16 mit sich. Jedoch lässt sich die dramatische Lage darauf nicht reduzieren. Immer mehr Bürger aus prekären Schichten rutschen durchs soziale Auffangnetz. Betroffene berichten von Trennung, Krankheit, Gewalterfahrung und unerwartetem Jobverlust als Auslöser. Die dahinter liegenden Gründe sind in einer immer stärkeren sozialen Schieflage zu suchen – etwa im Ausbau des Niedriglohnsektors und der Mietpreisentwicklung. Werena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) bekräftigte gegenüber der "Zeit": "Die Hauptursachen für den massiven Anstieg der Wohnungslosigkeit sind die zunehmende Armut und die Wohnungsnot."
Was wird gegen das Problem getan?
Erst im November 2020 rief das Europaparlament das Ziel aus, Obdachlosigkeit in der EU bis 2030 abzuschaffen. In einer Resolution wurden die Mitgliedsstaaten aufgefordert, nationale Strategien zu entwickeln. Wie das gelingen kann, zeigt das Beispiel Finnland. Dem skandinavischen Land gelang etwas europaweit Einmaliges: Die Obdachlosenzahlen sanken zwischen 1987 und 2016 von mehr als 18.000 Menschen auf 7.000. Einer der Erfolgsgründe ist die Initiative "Wohnen zuerst", die eine feste Wohnung als grundlegendes Menschenrecht voraussetzt. Temporäre Notunterkünfte wurden reduziert, der (Sozial-)Wohnungsbestand wurde im Gegenzug teils staatlich subventioniert aufgestockt. Die staatlichen Kosten, heißt es von finnischer Seite, seien unterm Strich dennoch nicht gestiegen, sondern eher gesunken.
Wie geht es beim Wiener "Tatort" weiter?
Mit einer "Verschwörung" (Arbeitstitel, Regie: Claudia Jüptner-Jonstorff) im österreichischen Innenministerium – der "Tatort" ist ein Jubiläumsfilm, nämlich Harald Krassnitzers 50. Einsatz als Moritz Eisner. Im September und Oktober wurde zuletzt "Die Amme" (Arbeitstitel, Regie: Christopher Schier) gedreht, hier geht es um den Mord an einer Prostituierten.
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH