ARD Degeto-Chefin Christine Strobl im Interview

"Wir brauchen eine eigene Programmplanung für die Mediathek"

Wie will sich die ARD fiktional in Zukunft gegen Amazon und Netflix behaupten? ARD-Degeto-Chefin Christine Strobl glaubt, eine Strategie gefunden zu haben.

Christine Strob ist die einflussreichste Fernsehmacherin Deutschlands. Als Chefin der ARD-eigenen Produktionsgesellschaft Degeto produzierte die 47-Jährige gefeierte Serien wie "Babylon Berlin" oder "Das Verschwinden". Sie ist allerdings auch verantwortlich für das, was manche Kritiker "Fernsehen von gestern" nennen: Wohlfühlkrimis am Donnerstag, in denen Deutsche Portugiesen oder Italiener spielen sowie Schmonzetten-Programme, die einer mittlerweile sehr alten Zielgruppe den Freitagabend versüßen sollen.

Befindet sich das lineare Fernsehen, wie es von der ARD noch "zelebriert" wird, auf den letzten Metern? Oder hat der riesige, öffentlich-rechtliche Fernsehapparat gegenüber Netlix und Amazon noch eine Zukunft?

prisma: Im Herbst startet der neue Irland-Krimi mit Désirée Nosbusch. Wissen Sie spontan, wie viele Krimis aus schönen Städten und Regionen Sie für den Donnerstag produzieren?

Christine Strobl: Ja. Ich kann Ihnen sagen, dass wir 24 "DonnerstagsKrimi"-Erstausstrahlungen im Ersten zeigen. Von den meisten senden wir zwei Folgen pro Jahr, aber nicht jedes Format läuft jährlich. Wir haben etwa 15 unterschiedliche Ermittler-Teams im Programm.

prisma: Sind das nicht ziemlich viele? Wann beginnt die Krimi-Müdigkeit?

Christine Strobl: Wir haben bewusst mehr entwickelt, als wir letztlich weiterführen können, denn wir wollten den Zuschauern eine große Bandbreite bieten, aus der sie auswählen können. Unterm Strich waren es ziemlich viele Formate, die gut ankamen. Aber es gab auch Krimis, die leider nicht funktionierten. Den "Prag-Krimi" werden wir nicht weiterführen. Mit "Der Metzger" hätten wir gerne weitergemacht, aber das war aufgrund der Zuschauerakzeptanz nicht vermittelbar. Und dann gab es noch solche Krimis, wie jenen aus Urbino, die zwar traumhafte Landschaften zeigten, aber beim Zuschauer nicht so gut angekommen sind. Da ist es dann richtig, die Energie auf etwas anderes zu lenken.

prisma: Sollen die Donnerstags-Krimis in Zukunft anspruchsvoller werden?

Christine Strobl: Wir wollten nie einfach nur Postkarte sein. Die Donnerstags-Krimis kann man auch wirklich nicht über einen Kamm scheren. "Nord bei Nordwest" mit Hinnerk Schönemann hat zum Beispiel eine ganz andere Stimmung als etwa "Der Bozen-Krimi". Der neue "Amsterdam-Krimi" mit Hannes Jaenicke ist ein für den Donnerstag deutlich härteres Format. Auch in Barcelona haben wir eine eigene Bildsprache entwickelt, die das Tempo der Stadt widerspiegelt und mit Clemens Schick einen eigenwilligen Ermittler bietet.

prisma: Kommen wir zum Freitag im Ersten, einer wertvollen, weil Krimi-freien Zone. Da entstanden unter Ihrer Ägide in den letzten Jahren viele schöne Einzelfilme. In letzter Zeit hat man jedoch den Eindruck, dass vorwiegend Reihen auf dem Sendeplatz etabliert werden: "Inselärztin", "Praxis mit Meerblick" ...

Christine Strobl: Ihre Beobachtung stimmt, wir setzen mittlerweile mehr auf Reihen!

prisma: Bindet das nicht Geld und Kreativität, die dann für besondere Einzelstücke fehlt?

Christine Strobl: Nein, das Wirtschaftliche spielt dabei nicht die entscheidende Rolle. Wir haben den Eindruck, dass die Zuschauer gerne an Figuren und ihren Geschichten dranbleiben möchten. Darum sind Serien ja so beliebt. Was bei der horizontalen Erzählweise allerdings nicht passieren darf, ist, dass der Anspruch und die Qualität verloren gehen. Man kann auch in der "Inselärztin" anspruchsvoll und lebensnah erzählen. Schauen Sie sich nur die letzten beiden Folgen an. Wir sollten Titel im Übrigen nicht überschätzen. Ein Titel ist das eine, der Inhalt etwas anderes.

prisma: Bei welchem Publikum funktionieren diese Reizworte: Insel, Ärztin, Praxis, Berge, Meer?

Christine Strobl: Ich bin auch nicht mit jedem Titel komplett glücklich, aber sie geben den Zuschauern Orientierung, was sie erwartet. Titel sind ein Grund, warum sie einschalten. Das ist beim Krimi ja noch extremer. Da funktionieren Worte wie Tod, Blut und so weiter (lacht). Es geht um Orientierung in einer Welt, die in ihrem Angebot sehr unübersichtlich geworden ist. Schauen Sie sich mal an, wie die Verlage Buchtitel gestalten. Da kann man schon über das Cover erkennen, was ein Buch versprechen soll: Sind die Farben grell oder gedeckt? Welches Bildmotiv hat man gewählt? Genauso sind Filmtitel ein klassisches Marketinginstrument. Es geht darum, die Aufmerksamkeit und das Interesse der Leute zu wecken. Unabhängig vom Titel können Inhalte ja trotzdem anspruchsvoll vermittelt werden.

prisma: Wie ist das Verhältnis zwischen Reihen und Einzelstücken am Freitag?

Christine Strobl: 2019 zeigen wir am Freitag etwa zwei Drittel Reihenformate und ein Drittel Einzelstücke. Für Einzelstücke wird aber immer Platz sein. Und vergessen Sie nicht den Mittwochsfilm im Ersten. Das ist ein Sendeplatz, der ausschließlich mit Einzelstücken bespielt wird.

prisma: Was ist Ihr Anspruch am Freitag?

Christine Strobl: Wir wollen Geschichten erzählen und Themen behandeln, die Menschen in ihrem Alltag berühren. Auf unterhaltsame Art und mit Charakteren, auf die man sich freut, an die man sich erinnert. Es geht auch durchaus darum, Menschen zu ermuntern Klischees und eingefahrene Strukturen zu überdenken. So wie etwa in unserer neuen Reihe "Toni, männlich, Hebamme". Es ist ein unterhaltsames, modernes Format, das uns erzählt: Hey, da gibt es ein Klischee – nämlich, dass Männer keine Hebammen sind – aber dieses Klischee kann man überwinden. Unter anderem mit klugem Humor.

prisma: Wenn Sie über Reihen reden, ist das dann schon Ihre Form der Serie, die ja ein großer Trend unserer Zeit ist?

Christine Strobl: Nein, die Serie ist noch mal ein anderes Feld. Da geht es um noch größere Erzählbögen mit Sogwirkung. Bei unseren Reihen haben wir den Anspruch, dass sie auch als einzelne Folge funktionieren. Ich glaube, dass serielles Erzählen noch auf Jahre hinaus angesagt und spannend sein wird.

prisma: Was wird die Degeto in Sachen Serie tun?

Christine Strobl: Wir haben ja als federführende Redaktion bei "Babylon Berlin", dessen dritte Staffel gerade entsteht, sehr viel getan. Staffel drei wird zwölf neue Folgen umfassen. Es ist eine große Aufgabe, die außergewöhnliche Qualität der Serie auf diesem hohen Niveau zu erhalten. In Zukunft soll es außerdem jedes Jahr eine anspruchsvolle Miniserie wie zuletzt "Das Verschwinden" mit Julia Jentsch geben.

prisma: Welche neuen ARD-Serien werden kommen?

Christine Strobl: Wir entwickeln gerade mit dem NDR, der Polyphon und Erfolgsautor Holger Karsten Schmidt "Die Toten von Marnow", eine in viermal 90 Minuten erzählte Geschichte um westdeutsche Pharmakonzerne, die in der DDR Menschenversuche betrieben haben. Die Dreharbeiten mit Sascha Alexander Gersak in der Hauptrolle starten 2019. Mit dem MDR und Rowboat entwickeln wir das Serienprojekt "Beste Kollegen" mit sechs Folgen von 45 Minuten. Hier dreht sich alles um eine junge LKA-Zielfahnderin, die auf der Jagd nach einem geflohenen Serienkiller ist und sich der Frage stellen muss: Erkennst du das Böse im Guten? Auch die Verfilmung der Lebensgeschichte von "Siegfried & Roy" zählt zu unseren aktuellen Serien. Bei dieser UFA-Produktion wird Philipp Stölzl nach den Drehbüchern von Jan Berger Regie führen.

prisma: Also drei neue Serienprojekte?

Christine Strobl: Nein, es kommt noch mehr. Gemeinsam mit dem ORF und Square One möchten wir die Serie "Euer Ehren", realisieren. Hier stellt sich ein Richter für das Leben seines Kindes über das Gesetz. Unter dem Arbeitstitel "Legal Affairs" entwickeln wir mit Medienanwalt Dr. Christian Schertz und UFA-Produzent Benjamin Benedict sowie dem RBB eine Anwaltsserie – vergleichbar mit "Suits", "Good Wife" oder "Boston Legal", in der es um Verletzung von Persönlichkeitsrechten, Hass im Netz oder Fake News geht. Ein besonderes Vorhaben ist auch das internationale Projekt "Das Netz", bei dem nationale Erzählstrukturen mit globalen verbunden werden. In mehreren Ländern entstehen eigenständig erzählte Serienepisoden, die miteinander verflochten sind und ein großes Ganzes – im weitesten Sinne um das Thema Fußball – ergeben. Apropos Neuland: Erstmals werden bei uns die beiden renommierten Produktionsfirmen Constantin und UFA gemeinsam ein Projekt realisieren – dabei geht es um die Geschichte des legendären KaDeWes. Beide Unternehmen hatten uns ihre Konzepte vorgelegt, nun haben wir sie zusammengebracht. Eine Bündelung von kreativen Kräften, die es so noch nicht gab.

prisma: Kann die Degeto ihre kreative Ausrichtung und Strategie eigentlich selbst entscheiden? Oder sagen Ihnen andere in der ARD, was Sie als Dienstleister zu tun haben?

Christine Strobl: Wir haben neun Gesellschafter, das sind die Landesrundfunkanstalten der ARD oder deren Werbetöchter. Sie beauftragen uns mit einem Mengengerüst und übertragen uns dazu ein Budget. In diesem Rahmen gestalten wir dann inhaltlich. 160 Filme bringen wir jedes Jahr ins Erste ein. Mit Wiederholungen laufen im Ersten etwa 800 bis 900 Filme pro Kalenderjahr von uns.

prisma: Wie eng sind die Absprachen mit den Intendanten der Rundfunkanstalten. Sie werden denen ja keine Wundertüten liefern ...

Christine Strobl: Mein erster Ansprechpartner sind der Programmdirektor und der Zusammenschluss der Fernsehdirektoren, die das Mengengerüst immer für zwei Jahre beschließen. In der konkreten inhaltlichen Einzelentscheidung sind wir frei. Natürlich ziehen wir regelmäßig Bilanz und reflektieren die Ergebnisse gemeinsam. Wenn wir dann aber dazwischen zusätzlich von einem Programm wie "Babylon Berlin" überzeugt sind, lässt sich dies gemeinsam mit den Kollegen auch unterjährig umsetzen.

prisma: ARD und Degeto stehen bislang noch für lineares, klassisches Fernsehen. Die neusten Nutzungszahlen des Medium verraten, dass selbst die um die 50-Jährigen mittlerweile sehr viel weniger linear fernsehen. Bricht Ihnen bald Ihr Publikum weg?

Christine Strobl: Der Trend der allgemeinen Fernsehnutzung ist sehr stabil. Aber Sie haben Recht – die Art, das Medium zu nutzen, verändert sich deutlich. Bisher war es vor allem die jüngere Zielgruppe, die sich zunehmend vom linearen Fernsehen verabschiedet hat. Mittlerweile wird diese Klientel immer älter. Dies ist ein neues Phänomen, auf das wir mit einer Gesamtstrategie reagieren müssen. Es darf in Zukunft in der Wertigkeit eigentlich keine Rolle mehr spielen, ob wir unser Programm fürs lineare oder nonlineare Fernsehen produzieren. Beide Verbreitungswege müssen für uns gleich wichtig werden. Deshalb arbeitet die ARD auch sehr intensiv an ihrer Aufstellung mit der Mediathek.

prisma: Sie meinen, dass die ARD auch dahin kommen wird, dass ihr Angebot ähnlich dem von Netflix oder Amazon genutzt wird?

Christine Strobl: Es wird sicherlich inhaltliche Unterschiede geben, aber von der Funktionalität müssen wir dahin kommen, dass unser Angebot genauso funktioniert. Wir haben mit "Babylon Berlin" mit mindestens einer Folge 15 Millionen Menschen erreicht – das ist ein großartiger Erfolg. Den haben wir geschafft, weil wir linear ausgestrahlt haben und zeitgleich die Serie in der Mediathek abrufbar war. Natürlich muss man beide Nutzungswege zusammenzählen – nur so ergibt sich heute ein realistisches Bild vom Erfolg.

prisma: Wie müsste eine ARD-Mediathek aussehen, die genauso attraktiv ist wie Netflix und Amazon?

Christine Strobl: Die Inhalte sind schon da. Das Angebot muss anders aufbereitet und kuratiert werden. Attraktives sollte in den Vordergrund gerückt werden, und nicht alles muss immer gleich prominent und immer auffindbar sein. Natürlich spielt auch die Verfügbarkeit eine wichtige Rolle. Wir brauchen meines Erachtens eine eigene echte Programmplanung für die Mediathek. Im Moment orientiert sich diese Planung noch sehr an der linearen Ausstrahlung. Die Mediathek ist momentan eher eine Art digitaler Videorekorder für verpasste Sendungen. Das müssen wir ändern. Die Mediathek muss ein attraktives Angebot für alle Nutzer werden – vor allem für jene, die nur noch nonlinear Fernsehen schauen.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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